Jonathan Howards Buch „We Want Them Infected“ bietet einen der ersten dokumentarischen Überblicke über die größte Gesundheitskatastrophe in den USA seit über einem Jahrhundert. Obwohl strukturelle Ursachen im Buch thematisiert werden, konzentriert sich der Autor auf das Wirken einzelner Personen, die aufgrund ihres Renommees eine besondere Diskursmacht besaßen. Sie erhielten viel Aufmerksamkeit in großen Zeitungen und bei bekannten Nachrichtensendern, suchten selbständig das Rampenlicht. Ein Blick auf diese Personen lohnt sich, um sich in Zukunft besser gegen das Wirken solcher „querdenkenden Ärzte“ zu immunisieren. Das Buch bietet gewinnbringende Einsichten, die weit über das Thema Wissenschaftskommunikation und den Umgang mit Desinformationen in der Pandemiebekämpfung hinausgehen.
Das Buch, das vor Kurzem im Verlag Redhawk Publications erschienen ist, trägt den Untertitel „Wie das gescheiterte Streben nach Herdenimmunität dazu führte, dass Ärzte sich der Impfgegner-Bewegung anschlossen und die Amerikaner für die Bedrohung durch COVID blind machten.“ Der Autor, Jonathan Howard, ist außerordentlicher Professor für Neurologie und Psychiatrie an der NYU Langone Health und Chefarzt für Neurologie am Bellevue Hospital.
Es ist ungewöhnlich, dass ein Buch mit dem folgenden Disclaimer beginnt: „Ich bedauere alle Fehler, die mir unweigerlich unterlaufen sind.“ Doch dieser Hinweis zeigt eine wichtige intellektuelle Demut, die vielen der im Buch besprochenen Personen während der Pandemie offensichtlich fehlte. Jonathan Howard gesteht solche eigenen Fehler in seinem zehn Kapitel umfassenden Werk ein.
Dessen Titel „We Want Them Infected“ mag zunächst verschwörungstheoretisch anmuten, stammt aber direkt von Paul Alexander, einem wissenschaftlichen Berater im Weißen Haus unter Trump, der im Juli 2020 schrieb:
„Säuglinge, Kinder, Jugendliche, junge Menschen, junge Erwachsene, Personen mittleren Alters ohne Erkrankungen usw. haben kein bis geringes Risiko ... also nutzen wir sie, um Herdenimmunität zu entwickeln ... wir wollen, dass sie infiziert werden ..."
Diese frühe Festlegung auf das Erreichen einer natürlichen Herdenimmunität durch Infektionen hat möglicherweise dazu geführt, dass die im Buch besprochenen Protagonisten systematisch Zweifel an der Wirksamkeit von Impfungen gegen COVID-19, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, gestreut haben könnten.
Is this the real life…?
Howard war während der ersten und schwerwiegendsten Coronawelle in New York in einem Krankenhaus tätig. Er schildert das Leid, das er dort erlebt hat. Die permanenten Geräusche von Sirenen in den Straßen, Kühltrucks mit Leichen und die mentale sowie körperliche Erschöpfung, aber auch den starken Zusammenhalt in dieser Zeit. Er berichtet auch von schweren medizinischen Entscheidungen, die ihn bis heute nicht loslassen.
Jonathan Howard hat in einem Interview mit dem US-amerikanischen YouTuber „Debunk the Funk“ über seine Erfahrungen während der Pandemie gesprochen und dabei von einer Spaltung zwischen zwei Welten berichtet. Einerseits gibt es die reale Welt, in der sich das menschliche Leid und die tragischen Auswirkungen der Pandemie zeigen. Andererseits existiert eine „Fantasiewelt“, in der dieses Leid negiert wurde und weiterhin wird. Es handelt sich um die Welt der Impfgegner:innen und „querdenkenden Doktor:innen“ (im Original: „contrarian doctors“), wie Howard sie bezeichnet.
Diese Trennung spiegelt auch Howards eigene Entwicklung wider. Schon vor der Pandemie begann seine ehemalige Studienkollegin Kelly Brogan falsche Behauptungen über Impfungen zu verbreiten. Dies führte dazu, dass er sich mit dieser Bewegung und ihren Erzählungen auseinandersetzte. In einem seiner früheren Bücher beschäftigte er sich bereits mit kognitiven Wahrnehmungsfehlern und ihren Auswirkungen auf die Medizin.
Durch diese Auseinandersetzung entwickelte Howard ein feines Gespür für die Narrative der Impfgegner:innen. Doch während der Pandemie stellte er fest, dass diese Narrative in den Vereinigten Staaten plötzlich mehrheitsfähig wurden. Die Verbreiter:innen waren nicht mehr nur Randfiguren, sondern auch angesehene Personen von renommierten Universitäten wie Stanford, Oxford oder Harvard. Ihre Worte hatten also Gewicht in der Öffentlichkeit.
Zu feines Gespür?
Kritiker werden Howard vermutlich vorwerfen, ein zu feines Gespür zu haben oder einen eigenen Wahrnehmungsfehler zu begehen. Dagegen spricht jedoch zunächst die prominente Unterstützung, die Howard für sein Buch erhalten hat. Unter anderem hat der Impfstoffforscher Peter Hotez, der kürzlich eine Auszeichnung der angesehenen American Association for the Advancement of Science (AAAS) erhalten hat, das Buch unterstützt. Martin McKee, Präsident der British Medical Association, schreibt über das Buch:
„Jeder, der an COVID-19 gelitten hat, Freunde und Verwandte verloren hat oder Long-COVID erlebt hat oder sich um sie Sorgen gemacht hat, ist Jonathan Howard zu Dank verpflichtet.“
Auch das renommierte Blog Science-Based Medicine, das während der Pandemie einen unschätzbaren Dienst für die Öffentlichkeit geleistet hat, unterstützt Howard. Durch die Webseite bin ich selbst vor kurzem auf einen lesenswerten Beitrag von Howard aufmerksam geworden.
Renommee ist – wie auch Howard feststellt – nicht immer alles. Neben dem reinen Autoritätsargument spricht auch Howards intellektuelle Demut und seine akribische Arbeit mit den Quellen für sein Gespür. In seinem Buch lässt er die Zitate sprechen und ordnet sie insgesamt nachvollziehbar ein, um argumentative Überlappungen mit der Impfgegnerszene aufzuzeigen.
In seinem Buch schafft er es darüberhinaus, die Leser:innen mit einer Vielzahl von Zitaten aus verschiedenen Phasen der Pandemie zu überzeugen. Dadurch wird deutlich, dass es sich bei den problematischen Aussagen nicht um vereinzelte Vorkommnisse handelt, sondern um ein systematisches Problem. Seine sorgfältige Recherche und Analyse lassen keinen Zweifel daran, dass dabei auch irreführende Narrative verbreitet wurden.
Kommunikationsstil: Opium für die Massen
Es ist fast unvermeidlich, sich zu fragen, was Menschen dazu treibt, unwissenschaftliche Zweifel an Impfstoffen zu verbreiten. Jonathan Howard gibt darauf keine klare Antwort und schreibt auch niemandem individuelle Motive zu. Einige von ihnen haben das Ende der Pandemie wiederholt und viel zu früh vorhergesagt oder angedeutet, teilweise schon im Frühjahr 2020. Howard ist überzeugt, dass diese wiederholten und verfrühten öffentlichen Vorhersagen dem Diskurs geschadet haben. Allerdings haben sie den Ärzt:innen, die sich gerne als Opfer von Zensur darstellen, in Wahrheit eine Plattform in führenden Medien geboten.
Howard hat jedoch eine persönliche Art entwickelt, das mögliche Denken und Fühlen dieser Ärzte zu charakterisieren. Er sieht darin insbesondere ein tiefes Bedürfnis nach Grandiosität, das Gefühl, jemand Besonderes sein zu wollen. Diese Einstellung lässt wenig Raum für Fehler und erschwert ein gesellschaftlich verantwortliches Handeln. Am Ende seines Buches stellt Howard die dazu passende Schlussfolgerung auf:
„Wenn der Kaiser keine Kleidung trägt, sind wir verpflichtet, ihm zu sagen, dass er nackt ist.“
Allerdings weiß er auch, dass es schwer sein wird, einen direkten Nachweis für den negativen Einfluss dieser schlechten Wissenschaftskommunikation zu erbringen. Er schreibt sinngemäß, dass wir vermutlich nie wissen werden, welche Auswirkungen diese Kommunikation hatte. Im Gegensatz zu „Querdenken“ geht es Howard nicht um eine Aufarbeitung vergangener Ereignisse in Schauprozessen. Vielmehr drückt er den Wunsch aus, sich zukünftig gegen solche Dynamiken immun zu machen.
Immun vor der Angst?
Während der Pandemie dominierte das Thema „Angst“. Unabhängig davon, ob diese tatsächlich vorhanden war oder nicht, wurden Begriffe wie „Coronaphobia“ oder „Fear of Normal (FONO)“ geprägt, die auch zur Stigmatisierung von Menschen verwendet wurden, die sich einfach aufgrund einer eigenen Risikoabwägung vor Corona schützen wollten. Howard weist dabei auf ein Paradox hin, das nicht völlig von der Hand zu weisen ist.
Obwohl viele dieser Ärzte eine übersteigerte Angst ausmachen wollten, waren sie oft diejenigen, die eine wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch kaum rational zu begründende Angst vor den Maßnahmen schürten. Der Onkologe Vinay Prasad schrieb beispielsweise im Oktober 2021:
„Die COVID-19-Politik zeigt einen (potenziellen) Pfad zum Ende von Amerika.“
Howard macht jedoch auch deutlich, dass nicht jede Kritik an den Maßnahmen automatisch als Teil einer solchen Dynamik verstanden werden darf. Eine differenzierte Betrachtung ist weiterhin wichtig. Die Unterscheidung zwischen Pseudo-Querdenken und Querdenken ist die größte Herausforderung, die sich aber lohnt, wie das Buch beweist.
Immun vor der Kritik?
Man könnte und wird vermutlich auch kritisieren, dass Jonathan Howard bei einigen Zitaten anmerkt, wie viele Menschen in den USA seit der jeweiligen Aussage an Corona verstorben sind. Dabei entsteht jedoch für mich nie der Eindruck, dass er diese einzelnen Aussagen direkt für die Anzahl der Todesfälle verantwortlich macht. Vielmehr unterstreicht Howard dabei, wie weit diese Aussagen von der pandemischen Realität entfernt waren. In den meisten Fällen gelingt es Howard auch zu belegen, dass diese Aussagen im eklatanten Widerspruch zu einer hilfreichen und möglichst alle Facetten berücksichtigenden Wissenschaftskommunikation standen.
Dieser Ansatz stößt jedoch an seine Grenzen in einem 25-seitigen Überblick mit einer Fülle von Passagen. Ideengeschichtlich sind diese mit Sicherheit nicht irrelevant, aber als Leser fehlte mir dabei manchmal die von Howard ansonsten demonstrierte Fähigkeit zur direkten Einordnung einzelner Narrative. Nicht immer hatte ich den Eindruck, dass diese für sich sprechen. Es drängte sich mir die Frage auf, ob einige der Zitate auch mit einer eher wohlwollenden Interpretation erklärt werden können.
Dem Buch von Howard hätte an einigen Stellen sicherlich auch ein erweitertes Lektorat geholfen, insbesondere im Hinblick auf einzelne Unachtsamkeiten bei der Formatierung. Diese sind jedoch insgesamt vernachlässigbare Probleme in einem ansonsten gelungenen Buch. Platz zur Ausbesserung für hoffentlich folgende weitere Auflagen bleibt immer.
„Perfektion ist der Feind des Guten, wenn es um das Notfallmanagement geht. Geschwindigkeit übertrifft Perfektion ... Der größte Fehler besteht darin, sich nicht zu bewegen. Der größte Fehler besteht darin, von der Angst vor dem Scheitern gelähmt zu sein. Wenn Sie Recht haben müssen, bevor Sie handeln, werden Sie nie gewinnen.“
(Michael Ryan, WHO Health Emergencies Programme, auf einer Pressekonferenz der Organisation vom 19. März 2020)
Einstieg in die Aufarbeitung
Im Buch bietet Jonathan Howard auch konkrete Hilfestellungen an. In einem Abschnitt gibt er 27 Argumente wieder, die „querdenkende“ Ärzt:innen während der Pandemie gegen die Impfung von Kindern verwendet haben. Dabei zeigt er auch auf, dass diese Argumente älteren Argumenten aus der Impfgegnerszene nicht nur ähneln, sondern auf einer argumentativen Strukturebene bisweilen gleichen.
Über die Empfehlungen von Howard zum Umgang mit solchen Argumenten und Ärzten hinaus dient das Buch als diskursiver Türöffner. Es bietet eine Erzählung ohne Fiktion. Eine auf nachprüfbaren Aussagen aufgebaute Darstellung mit journalistischem Anspruch über die Pandemie in den USA. Es ist ein möglicher Einstieg in die gesellschaftliche Aufarbeitung von Corona, die letztendlich trotz der Fokussierung auf einzelne Personen auch strukturell betrachtet werden sollte.
Dieses Buch ist nicht nur für ein US-amerikanisches Publikum interessant. Der Einfluss vieler dieser Ärzte reicht weit über den Atlantik. Daher werden auch interessierte Leser in Europa von der Lektüre profitieren.
Für Menschen, die sich für misslungene Wissenschaftskommunikation in Krisenzeiten interessieren - hier denke ich auch an die Kommunikation zur Klimakrise - könnte es lohnenswert sein, „We Want Them Infected“ eine Chance zu geben.
Das Buch ersetzt keine wissenschaftliche Aufarbeitung und schon gar nicht eine dringend nötige Debatte über strukturelle Ursachen. Jonathan Howard erhebt über die 445 Seiten auch nie den Anspruch, dass dies sein Anliegen sei.
„We Want Them Infected“ von Jonathan Howard (Redhawk Publication) ist für rund 30 Euro auf Amazon erhältlich. Das Buch liegt derzeit nur in einer englischsprachigen Ausgabe vor.
„Jedes Mal, wenn wir solche Unwahrheiten sehen oder hören, müssen wir sie bekämpfen und anprangern. Sie dienen dazu, die Schwere und Folgen von COVID-19 herunterzuspielen und die Bemühungen zum Gesundheitsschutz zu untergraben.“
(David Oliver: Mistruths and misunderstandings about covid-19 death numbers, in BMJ)
*Alle Zitate wurden von mir in die deutsche Sprache übersetzt.
** Für die Rezension habe ich keine Gegenleistung oder ein kostenfreies Rezensionsexemplar angefordert oder erhalten.
*** Für den Artikel wurde zur Unterstützung ChatGPT eingesetzt.