Ulf Poschardt: Liebe für die unsichtbare oder die starke Hand?
Der doppelmoralische libertäre Autoritarismus des WELT-Chefredakteurs
„Wie Javier Milei und Peter Thiel steht Musk für einen unbeirrbaren Freiheitsglauben, wie er einst den Westen beseelt hat“, so WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt am 30. November in der WELT. Natürlich darf dabei eine Verbindung zum schwammigen Begriff „Woke“ nicht fehlen. Ein Kommentar zur bedenklichen Freiheits-Ideologie in Teilen der WELT-Chefetage.
Poschardts Verehrung für rechtsdrehende libertäre Erlöserfiguren wie Teslagründer Elon Musk, Argentiniens Staatspräsident Javier Milei oder Investor Peter Thiel nimmt mittlerweile beunruhigende Züge an.
Elon Musk, der nicht erst seit seinem berüchtigten Tweet durch die Verbreitung von antisemitischen, rassistischen und verschwörungsideologischen Inhalten aufgefallen ist und dessen Plattform selbst offensichtlich derlei Probleme mit der Verbreitung entsprechender Inhalte hat, dass die EU-Kommission kürzlich ein Verfahren gegen X, ehemals Twitter, eröffnete.
Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass X die Löschung von Hassnachrichten und in Deutschland illegalen Inhalten nicht mehr vornimmt. Darunter auch Tweets, in denen der Holocaust geleugnet wird. Musk wird häufig als „libertär“ bezeichnet.
Javier Milei, der jüngst die Präsidentschaftswahl für sich gewinnen konnte, gilt wahlweise als Utraliberaler, libertärer Populist, rechts-libertär oder Anarchokapitalist, wobei letzteres sein bevorzugtes Label ist. Milei zweifelt den Klimawandel an, möchte Abtreibungen wieder verbieten sowie die Großbritannien zugehörige Falklandinsel zurückholen, steht der Ehe von Homosexuellen kritisch gegenüber und hat beschönigende Ansichten zur genozidalen Diktatur von 1976 im Land. Poschardts Verehrung von Milei ist nicht neu.
Peter Thiel gilt ebenfalls als libertär und steht politisch sehr weit rechts außen. 2016 unterstützte er die Präsidentschaftswahlkampagne von Donald Trump finanziell. 2021 veröffentlichte ProPublica eine Recherche aus der hervorging, dass Thiel keine Steuern auf ein Vermögen von 5 Milliarden Dollar zahlt. Ein Jahr später wurde bekannt, dass Thiel sich als Hauptfinanzier der MAGA-Bewegung betätigt. Viele der von ihm unterstützten Kandidat:innen vertraten auch die von Trump gesponnene Verschwörungserzählung zur „gestohlenen Wahl“. Auf die Frage was er erschreckend an Thiels ökonomischer und politischer Philosophie finde, antwortete der Autor einer Biographie zu Thiel: „Es grenzt an Faschismus.“
Spiegelidentität: Sich selbst in den anderen sehen
„Die von uns untersuchten Personen lehnen sich trotzig gegen soziale Konventionen auf, sind beseelt von dem anarchischen Impuls, ihre Anliegen gegen alle äußeren Widerstände durchzusetzen. Dabei entwickeln sie bisweilen eine unermüdliche destruktive Aktivität, die als heroischer Mut, zu sich selbst zu stehen, gewendet wird. Libertär ist ihr Autoritarismus, weil er eine Abwehr gegen jede Form der Einschränkungen individuellen Verhaltens darstellt. In ihm wirkt eine negative Freiheitsidee fort, in der sich das Individuum im Gegensatz zur gesellschaftlichen Ordnung verortet. (…). Der libertäre Autoritarismus führt seinen Kampf gegen die falsche Autorität im Namen einer wahren: der Freiheit.“
(Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“, S. 16 f.)
Die Ablehnung positiver Freiheit, also Freiheit von äußeren Zwängen, zeigt sich auch in einem Buch der von Poschardt sehr geschätzten WELT-Kollegin Anna Schneider. Der Journalist Matthias Ubl resümiert dahingehend: „Schneider leugnet, dass Freiheit etwas Soziales ist, und auch, dass Freiheit in der modernen Gesellschaft etwa durch staatliche Institutionen ermöglicht wird.“ Er bezeichnete diese ideologische Ausprägung als „Vulgärliberalismus“.
Und gegen welche „falsche Autorität“ kämpfen die Poschardts, Schneiders, Musks, Thiels und Mileis dieser WELT? Gegen einen vermeintlich übermächtigen Staat und den inhaltlich schwammigen Begriff des „Wokeismus“. Letzterer dient Poschardt et al. sowie deren Unterstützer:innen sich selbst psychisch zu entlasten, schließlich erinnern diese die Ansprüche der vermeintlich „Woken“ an das Fehlen ihrer eigenen sozial verorteten Freiheit.
Entlastung von der eigenen Doppelmoral
Diesen Mechanismus sieht man auch wirken, wenn Poschardt dem Öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Mitschuld am Aufstieg der AfD gibt. Während den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten über ihre eigenen Grundsätze gewisse Schranken gesetzt sind, haben private Medienangebote wie die WELT mehr Freiheit. In diesem Jahr lud der Fernsehsender der WELT auffällig häufig Politiker:innen der AfD ein.
Gern gesehener Gast bei der WELT ist auch der Politikwissenschaftler Werner Patzelt. Für das Altpapier vom 21. Dezember schreibt Ralf Heimann:
„Die "Welt" ist auf die Idee gekommen, über ihre Meldung dazu ("23 Prozent – AfD auf neuem Allzeithoch) mit dem Politikwissenschaftler Werner Patzelt zu sprechen, der in Interviews gerne beschwichtigt, so schlimm sei das mit der AfD doch gar nicht, was in seinem Fall aber auch daran liegen könnte, dass er die Partei so wenig schlimm findet, dass er sie sogar schon beraten hat.“
Kürzlich schrieb Poschardt: „Kendall Jenner, das bestbezahlte Model der Welt, fährt Ferrari, trägt Pelze und teilt nicht den Palästinenser-Quark ihrer Freundin Bella Hadid. Wie Javier Milei und Elon Musk könnte sie die Avantgarde eines neu kalibrierten Nonkonformismus sein.“
Menschenfeindlichkeit im anderen Lager als strategisches Werkzeug
Auffällig ist wie Poschardt hier ebenfalls den realen Antisemitismus in Teilen der Linken und Progressiven waffenfähig anreichert, um seine ins faschistisch tendierenden „Apostel“ zu beweihräuchern. Inhaltlich hat er hier einen Punkt und die WELT ist hier stark aufgestellt, wenn es um die Kritik an israelbezogenem Antisemitismus geht. Lösungen dafür hat Poschardt nicht, aber die muss er – um fair zu bleiben – auch gar nicht anbieten.
Das Handeln von Musk und Milei in seiner Analyse aber als „Nonkonformismus“ zu benennen und dies dann mit „unterkomplex“ zu labeln, wäre jedoch selbst für das Wort „unterkomplex“ eine Schmähung. Das Milei kürzlich einen ehemaligen Neonazi in seine Regierung berief, der unter anderem am Anschlag gegen eine Synagoge beteiligt war, ist durchaus bemerkenswert.
Die Organisation der er angehörte soll auch für den dem Mord an einem jüdischen Rechtsanwalt verantwortlich sein, so schreibt Haaretz. All das verschweigt Poschardt. In der jüdischen Community scheint man über diese Wahl mindestens irritiert, wie El Pais berichtet. Auch in der queeren Community ist man über die Wahl von Milei beunruhigt, wie Queer.de berichtete.
Aufgrund der erwarteten Proteste gegen die Reformen von Javier Milei hat die Regierung neue Sicherheitsrichtlinien gegen eine in Argentinien traditionelle Protestform von Straßenblockaden erlassen. Menschenrechtsaktivist:innen werfen der Regierung von Milei eine überzogene Einschränkung des Rechts auf Demonstrationen vor. Ein Mitglied der Regierungskoalition antwortete auf die Kritik eines Linken Gesetzgebers: „Gefängnis oder Kugel.“ Ob Poschardt, der wahrlich kein Freund der sogenannten „Letzten Generation“ ist, sich nun auch entsprechend gegenüber Blockaden der Bauerndemos positionieren wird, ist nicht überliefert.
Wer nicht mit der ZEIT geht, muss mit der WELT gehen
All das spielt für Poschardt vermutlich kaum oder keine bemerkenswerte Rolle. Musk und der neue Ex-Neonazi in der Regierung von Milei: sie beide haben sich doch schließlich entschuldigt. Was für Poschardt zählt ist der „Mut“ für die Freiheit. Doch mancher Begriff von „Mut“ kann mit Naivität besser umschrieben werden, ebenso wie manche „Freiheit“ in die Unterdrückung führen kann, wenn sie unvollständig oder gar keine Begriffe zur Verortung des Ichs innerhalb der Gesellschaft und der Abhängigkeitsverhältnisse in dieser hat.
Ob sich Milei bereits bei Ulf Poschardt bedankt hat? Einer seiner Ayn Randschen Helden hat das jedenfalls bereits. Alles für das Ego. Nichts für den Rest.