Satirisch überzeichnet für die Aufklärung
Diese Bilder mit russischen Kindern sind satirische Fakes
Seit Dienstag gehen eine Reihe von Fotos in sozialen Netzwerken viral, die russische Kinder zeigen sollen, die verstörend blutige Zeichnungen über den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine präsentieren. Doch es stellt sich heraus: Die Fotos sind Fakes. Eine Recherche zur Motivation des verantwortlichen Künstlers, darüber was Kinder in der Ukraine und Russland wirklich zeichnen und zur Frage, wo die Grenzen zwischen Satire und Fehlinformation liegen.
Michael Stadnik ist deutscher Regisseur mit Wurzeln in der Ukraine. Derzeit arbeitet er an den letzten Feinschliffen für eine Dokumentation zur russischen Besatzung der ukrainischen Stadt Butscha (zum Trailer des Films auf YouTube). Stadnik wird am Dienstag auf Instagram auf eine Reihe von Bildern mit russischen Kindern aufmerksam, die vor einer Klasse blutrünstige Zeichnungen zum Ukrainekrieg präsentieren.
„Ich war auch zuerst der Meinung, die Fotos seien echt und habe sie auch auf Twitter geteilt. Dann gab es aber einen Kommentar, der mich sinngemäß fragte: ‚Ist das echt?‘“ Bei näherer Betrachtung zeigen sich ihm Ungereimtheiten. Das sind etwa fehlende Finger, verzerrte Gesichtszüge und irritierende Perspektiven.
Stadnik ist sich jetzt sicher, dass eine AI bei der Erzeugung der Fotos involviert war und will auf Twitter andere mit einem Beitrag auf die Probleme hinweisen. Doch nicht alle schenken ihm Glauben. „Mir wurde auch vorgeworfen, dass ich angeblich lüge.“ Dennoch nimmt er sich Zeit auf einzelne Kommentare einzugehen und erhält auch Zuspruch.
„Danke, ich habe gesehen, dass einige Leute dies erneut gepostet haben und es ist keine gute Idee, Fälschungen zu verbreiten. Russland ist darin gut, aber wir müssen nicht auch auf solche Mittel zurückgreifen“, kommentiert ein anonymer Account namens Sofia. Das sieht auch Michael Stadnik so. „Im Zweifel fällt es auf die Ukraine zurück“, sagt er mir am Telefon.
Tausende Menschen haben die Bilder auf sozialen Netzwerken bereits gesehen. Nicht alle sind darauf hereingefallen, aber immerhin einige Journalist:innen und selbst prorussische Telegramkanäle, so Michael Stadnik.
Urheber wollte auf ernstes Thema aufmerksam machen

Stadnik ist es schließlich auch, der andere nach meinem Wissen zum ersten Mal auf den Ursprung der Abbildungen hinweist. Ein Instagram-Account namens „HogFaces“ (übersetzt: „Schweinegesichter“). Die Inhalte auf seinem Account sind satirisch-künstlerischer Natur. So gibt er als Aufenthaltsort in seiner Biographie an, dass er sich in einem Biowaffen-Moskito-Labor in der Ukraine befinde. Eine Anspielung auf eine Verschwörungserzählung, die die Regierung in Russland sogar vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterbreitete.
Der Humor von HogFaces kann dabei durchaus als „grotesk“ bezeichnet werden. So kommentiert er etwa Deutschlands Umgang mit Russland kritisch über ein Bild von Angela Merkel als Schwein, die von Putin über ein Feld geritten wird und dabei einem Stück Pipeline mit der Aufschrift „Gas“ folgt, das an einer Rute vor ihr verlockend baumelt.
HogFaces stellt sich mir gegenüber als ukrainischer Künstler aus Charkiw vor und räumt ein: „Alles auf den Fotos wurde generiert, abgesehen von den Kinderinschriften auf den Zeichnungen und dem Porträt von Putin.“ Die Bilder habe er mit der KI-Anwendung Midjourney und Photoshop erstellt.
Als Vorlage für die Erstellung der künstlichen Kinderzeichnungen, so sagt er, habe er auf authentische Bilder russischer Kinder und Jugendlicher zurückgegriffen. Die Gesichter der Kinder und Jugendlichen, so versichert er mir, seien jedoch alle künstlich generiert.** Der Großteil der Zeichnungen stammt dabei ihm zufolge aus einem russlandweiten propagandistisch ausgerichteten Malwettbewerb mit dem Titel „Helden Russlands und des Donbass“ vom Herbst 2022, veranstaltet von der regierungsfreundlich eingestellten Partei Gerechtes Russland und der Zeitung Roman-Gazeta.
Worum es ihm gegangen sei, frage ich. „Diese Bilder wurden von mir erstellt, um auf das Problem der Propaganda unter Kindern, einschließlich der Jüngsten und vor allem in den besetzten Gebieten, aufmerksam zu machen.“
Der satirische Fake im satirischen Fake
Bei der Durchsicht einer Auswahl der Bilder des Malwettbewerbs fällt auf, dass authentische Zeichnungen von russischen Kindern und Jugendlichen deutlich weniger explizite Gewaltdarstellungen aufweisen. Vereinzelt sieht man auf den Zeichnungen Explosionen, verwundete Menschen und Blut. Der Tod schwingt natürlich häufig mit. Verstümmelte Körper, wie auf den generierten Bildern von HogFaces, konnte ich jedoch nirgends sehen.
Wie die Fotos auf Grundlage dieser Vorlagen also so explizit ausfallen konnten? Er habe auch realistische Kriegsbilder mit in den Datensatz aufgenommen so HogFaces. Am 1. April teilte der Künstler auf Instagram schon einmal eine Galerie mit generierten Fotos, in der ebenfalls Kinder mit Zeichnungen zum Krieg abgebildet sind. Dabei ist auf zwei Bildern eine drastische Szene zu sehen, die er ebenfalls zur Erstellung mit Midjourney verwendet habe.

Die entsprechende Abbildung zeigt einen Panzer mit einer falsch gezeichneten Russlandfahne, der einen Mann mit Ukraineflagge überfährt. Auf der Wange ein Hakenkreuz, auf dem Knie der Dreizack der Ukraine und auf dem Schuh ein Symbol, das möglicherweise einen Davidstern darstellen soll. Es ist die einzige Abbildung im Pool der Zeichnungen von HogFaces, die an die Brutalität seiner künstlich generierten Bilder heranreicht.
Doch das Bild stammt nicht aus dem Malwettbewerb und wurde bereits im Jahr 2008 veröffentlicht. Damals zeigte die Satireseite der fiktiven ukrainischen Partei der „Dnieper-Donetsk Arbeitergewerkschaft“ (PDRS) als Reaktion auf den Kaukasuskrieg 2008 eine kommentierte Bildergalerie mit vermeintlichen Zeichnungen der „politisch klügsten Arbeiterkinder“.
Angeblich soll die fragliche Zeichnung dort von einem Peter Tkachenko aus der 5. Klasse stammen. Die satirische Natur zeigt sich auch an der Bildunterschrift. „Peter schrieb uns eine SMS über das Telefon: ‚HIER ZERSTÖRT UNSER PANZER BANDERA, DER RUSSLAND UND OSSETIEN VERDAMMT HAT.‘“
Eine weitere satirische Zeichnung auf der Seite, die Russen bei der Verteilung von Pässen im darin besetzten Sewastopol zeigt, bezeichnet Michael Stadnik, den ich auf die Seite aufmerksam mache, als geradezu prophetisch.
Russland: Kindheit und Jugend in einem propagandistischen Staat

In den echten Zeichnungen russischer Kinder zeigen sich natürlich Anzeichen der Auswirkungen staatlicher und gesellschaftlich geteilter Propaganda. So ist auf dem Bild eines 6 Jahre alten Jungens ein Kampf zwischen zwei Panzern zu sehen mit der Bildunterschrift: „Panzerschlacht zwischen russischen Truppen und Nazis.“
Die Kinder zeichnen sich teilweise selbst in militärischen Uniformen beim Marschieren. Mehrfach werden auf den Zeichnungen Kriegsverbrecher wie beispielsweise Mychailo Tolstych als vermeintliche Helden stilisiert. „Donbass, das ist Russland“, heißt es auf einer anderen Zeichnung. Allgegenwärtig ist auch das „Z“ als Symbol russischer Militärpropaganda.
Im vergangenen Jahr wurde ein Vater zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und verlor das Sorgerecht über seine Tochter. Diese hatte in ihrer Schule eine Zeichnung gegen den Krieg angefertigt, auf der unter anderem „Ruhm der Ukraine“ stand.
Nicht alle Zeichnungen russischer Kinder und Jugendliche unterscheiden sich dabei grundlegend von denen ihrer gemeinsamen Altersgruppe in der Ukraine. Viele wünschen sich auf ihren Bildern ebenfalls Frieden oder zeichnen militärisches Gerät und Grausamkeiten, um mit dem Schrecken des Krieges auf ihre Art umzugehen. Das ändert jedoch nichts an den massiven Unterschieden zwischen beiden Gesellschaften und Regierungen, für die aber kein Kind letztlich eine Verantwortung trägt.
Die Militarisierung von Kindheit und Jugend in Russland ist kein Geheimnis, verdient aber gerade in Deutschland deutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Besonders bedrückend ist dabei das Beispiel von Russlands Junarmija, die Kinder gezielt für den Krieg erzieht. Diese Militarisierung zeichnet sich bereits länger in der russischen Gesellschaft ab, wie u.a. dieser Gastbeitrag von Yuliya von Saal in der FAZ vom Juni 2022 in Erinnerung ruft, aber auch vor dem Einmarsch im Februar 2022 war diese Entwicklung zu beobachten.
Nicht unerwähnt lassen sollte man an dieser Stelle auch die Entführung tausender ukrainischer Kinder durch Russland seit Beginn des russischen Angriffskrieges. Ein weiteres der zahlreichen Kriegsverbrechen, die Russland in diesem Konflikt bereits begangen hat.
Fakes für die Aufklärung?
HogFaces wollte mit dieser Aktion Aufmerksamkeit für diese Probleme erzeugen. Ist ihm das gelungen? Michael Stadnik ist da geteilter Meinung. „Im ersten Schritt denke ich: ‚Nein.‘ Im zweiten Schritt, wenn sich erst einmal herumgesprochen hat worum es eigentlich geht, könnte es vielleicht aber auch einen Prozess in Gang setzen.“
Auf die Frage, ob er einen Widerspruch darin sehe, wenn seine zur Aufklärung bestimmten Abbildungen zunächst zur Verbreitung von Fehlinformationen beitragen, antwortet mir HogFaces:
„Meine Lieblingstechnik ist Absurdität und Übertreibung. Und ich hoffe, dass ein solcher Ansatz zumindest einigen russischen Müttern, Lehrern oder einfachen Bürgern die Augen öffnen wird und sie darüber nachdenken werden, ob sie das Richtige tun. Ja, diese Bilder sind absurd und übertrieben, um Aufmerksamkeit zu erregen. Man könnte sagen, ich zeige nur, was als nächstes passieren wird, wenn sich jetzt nichts ändert. Vielleicht sind sie wie die Bilder von faulen Lungen auf Zigarettenpackungen.
Man kann meine Bilder als Fake bezeichnen, das stört mich nicht, schließlich bin ich kein Medium. Aber wenigstens trägt mein Fake nicht dazu bei, Menschen zu töten. Es bringt jemanden zum Lachen, jemanden zum Nachdenken, jemanden möglicherweise zum Entsetzen oder zur Abscheu. Ich sehe daran nichts Falsches.
Mir gefällt die Reaktion der 'denkenden Russen' auf das Icon des Terroristen Jewgeni Prigoschin mit dem Vorschlaghammer, mit dem er Menschen getötet hat oder auf diese Kinderzeichnungen, wie ‚Bitte sag mir jemand, dass wir nicht so tief gefallen sind.‘
Wenn ein Russe nicht versteht, dass dies nur digitale Kunst ist, werden sie vielleicht darüber nachdenken, ob alles in ihrem Land in Ordnung ist. Was könnte passieren, wenn ein Ukrainer denkt, dass dies ein echtes Foto ist? Sie können sie so oder so nicht noch mehr hassen. Wenn es ein Ausländer ist, ist es vielleicht möglich, sie zumindest auf diese Weise zu erreichen.“
Was auch immer die satirischen Fotos von HogFaces letztlich in Gang setzen werden, eine tiefere Auseinandersetzung mit der eigenen Anfälligkeit für Fehl- und Falschinformationen und eine bessere Fehlerkultur dahingehend könnten auch Teil dieser Debatte sein. Dazu hat Stadnik, der die Bilder anfänglich noch für authentisch hielt, sich bereits Gedanken gemacht. Gerade der emotionale Aspekt, insbesondere wenn es um Kinder geht, sei für ihn ausschlaggebend gewesen, um diese zunächst für glaubhaft zu halten.
Aber auch ich als Autor dieses Textes bin ins Zweifeln gekommen. Nein, eine bewusste Verbreitung von Fakes, die der Gesellschaft oder Individuen schaden können, sollte selbstverständlich Tabu bleiben. Wenn jedoch satirisch-künstlerische Inhalte unreflektiert übernommen werden, bricht sich darin auch ein Stück weit eine Wirklichkeit, die sich der Kontrolle entziehen muss. Doch auch dabei sind Graubereiche möglich, die sich der Möglichkeit zur Kritik stellen sollten.
Insofern ist hier schlussendlich auch kein trockener Faktencheck entstanden, sondern eine streckenweise kommentierende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten einer komplizierten Geschichte, die noch lange nicht vorbei ist – leider ebenso wie der Krieg, in dem sich diese abspielt.