“Querdenken”-Filmproduktion „Schutzfilm“ hat eine neue Dokumentation veröffentlicht. Darin zu sehen: Über eine Stunde Gespräch mit dem umstrittenen griechisch-amerikanischen Medizinprofessor John Ioannidis. Erst vor wenigen Monaten hat „Schutzfilm“ die Dokumentation Eine andere Zukunft veröffentlicht, in der Verschwörungsnarrative und Falschinformationen zur Pandemie verbreitet werden. Verschwörungsnarrative hat Ioannidis zum Glück nicht im Angebot. Eine Reise zu den Grenzen der Evidenz. Eine Filmkritik.
Dieser Beitrag ist eine Republikation eines Artikels auf Ostprog.de vom 3. November 2022.
„Warum glauben sie zu wissen, dass der Virologe Christian Drosten in Sachen Pandemie-Bekämpfung mehr Expertise hat als etwa Kulldorff oder Ioannidis?“ Das jedenfalls fragte sich der Journalist Tim Röhn Ende November 2021 in der WELT. Dass der genannte Martin Kulldorff seine Expertise in Sachen Pandemiebekämpfung längst gegen die Verbreitung von Hass, die Stärkung von alternativen Medien und Verschwörungsideologien sowie die Streuung von Desinformationen eingetauscht hat, war damals zumindest in Teilen bekannt. Ganz sicher bekannt war, dass Kulldorffs Unabhängigkeit als Wissenschaftler bezweifelt werden konnte.
Ob Medizinprofessor Ioannidis nun auch zu den angeblich zu unrecht geschassten Experten in der Pandemie gehört, darüber will nun eine neue Dokumentation unter dem Titel Out to see aufklären.
Out to see ist ein Film mit hohem Anspruch. Gedreht wurde in Berlin, Stanford, Wien, Sanssouci, Salzburg sowie in verschiedenen griechischen Ortschaften. Der Film endet, wie er beginnt: Mit einem im Meer schwimmenden John Ioannidis. Hin und wieder sieht man ihn in kurzen Sequenzen, die wohl Ausschnitte seines Lebens zeigen sollen. Ioannidis, der über einen Campus läuft. Ioannidis an einem Computer im Büro sitzend, wie er sich anscheinend von der Kamera ertappt umdreht und dem Publikum zulächelt.
Filmemacherin Patricia Marchart nutzt aber auch einzelne Ausschnitte ohne den Wissenschaftler. Meistens sind es Kinder und Jugendliche. Ein typisches Motiv in Filmen von Marcharts Projekt „Schutzfilm“ und wenig überraschend, wenn man die Hintergründe kennt. Hinter dem Filmprojekt steht nämlich wieder einmal ganz offiziell der österreichische Verein Zukunft Kinderrechte.
HINTERGRUND: ZUKUNFT KINDERRECHTE
Auf der Seite des Vereins heißt es unter anderem: „Hier haben sich Menschen zusammengefunden, die das Thema Corona – Massnahmen [sic!] für Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.“
Ein großer Teil der Protagonist:innen hinter Zukunft Kinderrechte hat entweder einen Bezug zu oder stammt direkt von der Initiative für evidenzbasierte Corona Informationen (ICI). Die ICI schaffte es im Mai 2021 sogar in einen Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen an die Bundesministerin für Frauen, Familie, Jugend und Integration in Österreich. Beteiligt seien „Influencerinnen und Influencer von Verschwörungstheorien“, heißt es darin sinngemäß über die Initiative.
Bereits im Mai 2020, kurz nach Gründung der ICI, produzierte Schutzfilm ein Video für die Initiative. Ein Gespräch mit Werner Winterstein. Dieser ist mittlerweile ebenfalls Mitglied von Zukunft Kinderrechte.
Im März vergangenen Jahres veröffentlichte Der Standard eine Übersicht zu den Verbindungen der ICI in die Szene der Coronaleugner. Die Initiative organisierte demnach auch die ersten Demonstrationen gegen Coronamaßnahmen in Österreich.
Ebenfalls beteiligt ist Claudia Oberbeil. Oberbeil wird im vorherigen Film von „Schutzfilm“ als Kamerafrau aufgeführt. Sie ist im Gegensatz zu den meisten anderen Mitgliedern von Zukunft Kinderrechte deutsche Staatsangehörige. In Deutschland gründete sie gemeinsam mit weiteren Personen die “Querdenken”-Initiativen Kinderrechte Jetzt sowie das Wir-Gemeinsam Bündnis.
Mit weiteren Personen aus der deutschen “Querdenken”-Szene, war sie im Sommer an der Aktion Initiative Kindeswohl beteiligt.
Wirklich irritiert war ich über diese Art von Einspielern nur an zwei Stellen. Zu sehen ist dort jeweils der österreichische Psychologe Manuel Schabus, der mit einem Kind in einem See spielt. Merkwürdig daran ist, dass Schabus bereits in der letzten Produktion von „Schutzfilm“ auftritt. Dort jedoch in der Rolle als interviewter Experte. Im Abspann des aktuellen Films heißt es, dass Schabus sogar für die Kommunikation verantwortlich war.
Letzteres überrascht nach einer kurzen Recherche kaum, denn Schabus lud Ioannidis im vergangenen Jahr für eine Rede nach Salzburg. Es liegt nahe, dass er den Kontakt für „Schutzfilm“ hergestellt hat. Dass Schabus dann aber auch noch bereit war persönliches Videomaterial für den Film zur Verfügung zu stellen, spricht noch für eine andere Dimension der Unterstützung.
Das wirft retrospektiv mindestens Fragen auf über die Abgrenzung des Produktionsteams zu seinen eigenen Protagonist:innen auf, ist aber mit Sicherheit nicht das größte Fragezeichen, welches der Film hinterlässt.
„WHO IS JOHN IOANNIDIS?“
„Ich weiß nicht, wer John Ioannidis ist.“** Dieser Satz von Ioannidis dient als Einstieg in den Film.
Würde man den Wissenschaftler anhand der existierenden Quellenlage einordnen müssen, würde das wohl folgende Antwort ergeben: Einerseits ist John Ioannidis ein Wissenschaftler, der vor der Pandemie eine wirklich herausragende Reputation genossen hat und während der Pandemie teils heftig angegriffen wurde. Andererseits hat Ioannidis auch nachweislich Stoff für Verschwörungsideolog:innen geliefert, teils fehlerhafte Studien eingereicht und eine interessante Nähe zu mindestens einem Autoren der Great Barrington Declaration unterhalten.
Dieser Autor – Jayanta „Jay“ Bhattacharya – ist mittlerweile an einer Initiative beteiligt, die Verschwörungsnarrative und Desinformationen zur Pandemie in die Welt setzt: das Brownstone Institute.
HINTERGRUND: GREAT BARRINGTON DECLARATION / BROWNSTONE INSTITUTE
Die Deklaration zielt entgegen mehrheitlicher wissenschaftlicher Vorbehalte darauf ab, eine Herdenimmunität über eine Durchseuchung der Bevölkerung zu erreichen. Um Risikogruppen zu schützen, spricht man von einem „gezielten Schutz“, bleibt aber bis heute eine Erklärung schuldig, wie dies bei hohen Inzidenzen zu gewährleisten sei. Neben Jay Bhattacharya war Martin Kulldorff einer der Hauptautoren.
Die US-amerikanische libertäre Denkfabrik American Institute für Economic Research (AIER) war maßgeblich bei der Entstehung der Deklaration im Herbst 2020 involviert. AIER war zuvor auch an der Verbreitung von Narrativen gegen die Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels beteiligt, so Nafeez Ahmed für die Byline Times.
Das Brownstone Institute bezeichnet sich sogar selbst als „spirituelles Kind der Great Barrington Deklaration.“
Laut Journalismusplattform The Citizens, soll Brownstone-Gründer Jeffrey Tucker im Januar 2022 auch Fehlinformationen über die Wirksamkeit der Impfstoffe in Uganda verbreitet haben. Tucker war in der Vergangenheit ebenfalls Mitglied der libertären Denkfabrik AIER. Martin Kulldorff teilte im März einen Beitrag von Tucker für das Brownstone Institute. Darin fragt dieser, wer für die Coronapolitik verantwortlich gemacht werden wird und zieht Vergleiche zum Nationalsozialismus. Als Bebilderung des Beitrags dient eine Guillotine

Der chirurgische Onkologe David Gorski hat all das in einem Artikel für Science-Based Medicine dokumentiert. Bereits Ende März 2021. In WIRED charakterisierte David Freedman Ioannidis im Mai 2020 als „the fringe scientist who pumped up a bad study that supported a crazy right-wing conspiracy theory in the middle of a massive health crisis.“
Gorski nennt Ioannidis aktuell einen „contrarian“, der vor allem aufgrund seiner untypischen Positionen zu Corona Gehör in den Medien gefunden habe.
Hätte Ioannidis sich um eine transparente Erklärung dieser Fehler bemüht, wäre das sicherlich einfach zu verzeihen. Insbesondere mit seinem ansonsten exzellenten Ruf. Doch Ioannidis hat genau dies nicht getan, wie auch Devi Sridhar im Guardian kommentiert. Im Gegenteil. In diesem Jahr legte er in einem methodisch vielfach kritisiertem Paper nach, in dem er wesentliche Kritikpunkte an der Great Barrington Declaration nicht erwähnte.
Etwa die Tatsache, dass Befürworter:innen bis heute keine Evidenz für die wichtigsten Kernannahmen der Deklaration liefern können. Wenig überraschend, dass die radikal-libertäre Lobbyorganisation American Institute for Economic Research (AIER) seine Veröffentlichung wohlgesonnen bedachte.
Ioannidis spricht in dem Paper davon, dass die Great Barrington Declaration stiefmütterlich behandelt worden sei. Dagegen spricht allein schon ein offizieller Bericht des Select Subcommittee on the Coronavirus des Weißen Hauses. Darin wird ersichtlich, dass Autor:innen der Great Barrington Declaration einen ganz eindeutigen Einfluss auf politische Entscheidungen unter der Ägide des damaligen Präsidenten Donald Trump genommen haben.
David Gorski gelangt zu folgender Einschätzung: „I’m hard-pressed to find any JSM [John Snow Memorandum, GH] signatories having been invited to have such close contact with the Trump or Johnson administrations.”
Und Ioannidis hat eine große Sympathiegemeinschaft bei “Querdenken”. Allein in meinem Telegram-Rechercheaccount finden sich rund 700 Nennungen seines Nachnamens. Die überwiegende Mehrheit davon im neutralen bis positiven Rahmen.
Der österreichische Sender ServusTV lud Ioannidis im vergangenen Jahr für eine Sendung ein. Im Bayerischen Rundfunk charakterisiert Elisabeth Kagermeier den Sender folgendermaßen: „Während der Pandemie sind einzelne Sendungen von ServusTV immer wieder durch falsche Informationen zu Corona, Anspielungen auf Verschwörungsnarrative sowie nicht ausgewogene Berichterstattung aufgefallen.“ Nun sieht man ihn also auch bei „Schutzfilm“.
Ioannidis, so umschreibt Gorski das Problem, sei vor der Pandemie ein hervorragender Wissenschaftler gewesen, wenn es um die Kritik an Methoden ging. Bei seinen eigenen Forschungen zeigten sich jedoch teils erhebliche Schwächen, zumindest im Zusammenhang mit der Pandemie. Gorski schreibt: „[H]e’s prone to every bias and flaw that he criticizes in others.” Projiziert Ioannidis also nur? Hat bei ihm ein Umdenken bezüglich seiner eigenen Herangehensweise stattgefunden?
Die neue Dokumentation mit dem Wissenschaftler liefert dafür sowohl an der Oberfläche als auch bei tieferer Betrachtung einige interessante Antworten. Welche Sichtweise setzt sich dabei durch? Die von Ioannidis oder diejenige von Gorski et al.?
HERAUS AUFS MEER
MITTEN IN DIE WELLEN...
Als Hauptprotagonisten sieht man Ioannidis über weite Strecken des Films in einem langen Flur sitzend über seine Erfahrungen mit Corona erzählen. Ioannidis spricht viel und schnell. Als platze all das endlich einmal aus ihm heraus. Rhetorisch stellt er gerne Fragen, wiederholt sich – auch inhaltlich – mehrfach im Verlauf des Gesprächs und neigt zu shakespearischer Wortwahl. Zwar ist ihm hier und da ein Lachen oder eine Sorgenfalte anzusehen, insgesamt merkt man aber Ioannidis eher eine analytische Ader an.
Wir erfahren das Ioannidis als Wunderkind galt, weil er etwa bereits in frühster Kindheit Romane geschrieben habe. Er entschied sich gegen die Kunstwelt und wurde Mediziner, weil er „dachte, dass das der beste Weg sei, um Menschen zu helfen.“ Es folgt eine längere Erklärung zur wissenschaftlichen Methode und warum Kritik dafür so wichtig ist.
Was er nach dieser soliden Einleitung aufgebaut hat, reißt er sofort wieder ein. „Ich denke, mein größter Fehler war, dass ich unterschätzt habe, wie viel Macht Politik und Medien und Mächte außerhalb der Wissenschaft auf die Wissenschaft haben können.“
In einer weltweiten Pandemie, in der jede korrekte Information Leben retten kann und Falschinformationen fürchterliche Konsequenzen haben können. In eben dieser Pandemie fällt John Ioannidis kein schlimmerer Fehler ein, als dieser. Wie Ioannidis mit dieser Leerstelle umgeht, ist wirklich interessant. Er füllt sie mit Politik, Medien und Mächten „außerhalb der Wissenschaft.“
Ioannidis schließt daran ein paar bemerkenswerte Aussage an. Wir sollten eher an die „Jugend“ denken und an „unsere Träume“. Nur um diese Prosa mit harten Fakten wie Klimawandel, Kriege, Hunger und Armut zu ergänzen. Was sei schlimmer als diese Probleme? Laut Ioannidis wäre es das Schlimmste Menschen mit diesen Fakten „weiter zu bedrohen“, denn dann würde es erst recht zu Katastrophen kommen, meint jedenfalls der Wissenschaftler.
Daran knüpft er den Hinweis, dass „wir“ in der Pandemie Fehler gemacht haben, ohne darauf näher einzugehen. Er nennt es eine „Lernerfahrung für uns alle.“ Was er allerdings aus seinen persönlichen Fehlern gelernt hat und welche Fehler das konkret waren, erfährt man im Verlauf von über einer Stunde Laufzeit nicht.
LAND UNTER
Was man innerhalb dieser Zeitspanne über Ioannidis in und zwischen den Zeilen erfährt, ist dennoch bemerkenswert. Wenig überraschend ist die unbelegte Behauptung von ihm, dass die überwiegende Mehrheit der Maßnahmen „wahrscheinlich“ mehr Schaden angerichtet hätte. Ioannidis, der später von einem Mangel an Überlegungen zu Kosten-Nutzen-Verhältnissen erzählt, hat jedoch fast keinerlei wissenschaftliche Evidenz auf seiner Seite, um diese Behauptung zu untermauern, geschweige denn ein ausgearbeitetes Kosten-Nutzen-Modell.
Aber das braucht es für Ioannidis vermutlich auch nicht, denn er ist der festen Überzeugung, dass die pandemische Phase zwischen Ende 2021 und Beginn 2022 in den meisten Ländern der Welt bereits endete. Das behauptet er zumindest im Film. Damit widerspricht er der gegenwärtigen Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation.
Deutschland sei, so Ioannidis, sogar bereits Ende 2021 aus der pandemischen Phase ausgetreten. Und damit widerspricht er ebenfalls der klaren Mehrheit der Experten. Zumindest was seine Schlüsse anhand seiner Definition von „Endemie“ anbelangt, die er in der Dokumentation nicht transparent kommuniziert.
Und allein hierin liegen bereits zwei große Widersprüche zum von Ioannidis formulierten Anspruch an Wissenschaft sowie seiner eigenen Positionierung in der Öffentlichkeit. Er selbst kritisiert nämlich mehrfach angeblich fehlende Transparenz und Evidenz. Die meisten Paper zu Corona seien von schlechter Qualität, so der Wissenschaftler. Seine Belege dafür sind aber schwach.
Als einziges – grundlegend zunächst einmal – valides Beispiel dafür nennt er ein zurückgezogenes Paper vom Beginn der Pandemie. Doch auch da stellt sich eine wesentliche Frage, die im Interview offensichtlich nicht gestellt wurde. Der „retraction“-Prozess scheint hier doch eigentlich funktioniert zu haben. In vielen wissenschaftlichen Teilbereichen gab es während der Pandemie tatsächlich ein hohes Niveau an zurückgezogenen Papern, wie ein Paper für die Jahre 2020 und 2021 zeigt.
Einen automatischen Rückschluss auf die Behauptung von Ioannidis lässt das aber wiederum nicht zu. Jedenfalls nicht nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung dazu, der mir geläufig ist. Würde Ioannidis hier etwa mehr Transparenz im „retraction“-Prozess einfordern, wäre das zumindest im Einklang mit beispielsweise diesen Autoren einer Studie zum Thema.
Unveröffentlichte Rohdaten aus den Studien der Impfmittelhersteller nennt Ioannidis ebenso als Beispiel für mangelnde wissenschaftliche Transparenz, wie auch die zögerliche Zusammenarbeit des Labors in Wuhan mit internationalen Expert:innen. Beide Beispiele können aber nicht als Beleg dienen, da sie jeweils an Schnittstellen zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen stattfinden. Das sollte auch Ioannidis wissen. Zwar gebe es „viele, viele Beispiele“ die seine Behauptung weiter untermauern würden, aber Ioannidis nennt diese weiteren Beispiele nicht. Dass seine genannten Beispiele ebenfalls nur anekdotische Evidenz liefern, wenn überhaupt, scheint ihn nicht zu stören. Auch seine eigenen zahlreichen Forschungsfehler würdigt er nicht.
Diese Strohmänner errichtet Ioannidis, um schließlich folgenden Schluss zu ziehen: „Aus diesem Grund begannen viele Menschen ihr Vertrauen in die Wissenschaft zu verlieren. Sie hatten das Gefühl, dass die Wissenschaft in ihre Rechte, in ihre Freiheiten, in ihr Leben, in ihre alltäglichen Erwartungen eingriff und gleichzeitig passierte es auf sehr esoterische Weise, dass nur wenige Menschen die Kontrolle über die Daten hatten und dann irgendwie Entscheidungen aufgezwungen wurden über sie, während die Daten für andere nicht einsehbar waren.“
Es wäre jedoch an Ioannidis seine Behauptungen bezüglich mangelhafter wissenschaftlicher Transparenz exakt und ebenso transparent darzulegen, statt auf Beispiele zu verweisen, die zu der Beantwortung dieser Frage überhaupt nichts beitragen können. Wäre es nicht exakt in seiner Verantwortung, diesen „viele[n] Menschen“ bei der Aufklärung zu helfen?
Ioannidis selbst meinte im Januar 2021 – gemeinsam mit unter anderem Jay Bhattacharya – in einer Studie herausgefunden zu haben, dass restriktive Lockdownmaßnahmen keinen Effekt hätten. Diese wurde von einer Reihe von Expert:innen etwa aufgrund der herangezogenen Methodik kritisiert. In der Süddeutschen Zeitung äußerte sich damals sogar der Medizinstatistiker Gerd Antes kritisch.
HINTERGRUND: GERD ANTES
Antes trat selbst in der letzten Dokumentation von „Schutzfilm“ auf. Darin behauptete er sinngemäß, dass Modellierer „Erfüllungsgehilfen für die Regierung seien“, auf der Grundlage der Doktrin: „Ihr müsst der Bevölkerung Angst machen“. Für das Vorhandensein einer solchen auch nur impliziten Doktrin gibt Antes keinerlei Belege. In Deutschland führt “Querdenken” als Beleg immer wieder ein Strategiepapier aus dem Innenministerium an, welches diese Annahme angeblich bestätigten soll. Problem daran: Weder die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel noch ihr Parteikollege und damaliger Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sollen das Papier ernstgenommen haben, wie der Focus berichtete.
Zudem galt Antes lange Zeit als Unterstützer der Initiative Familien. Einer Elterninitiative, die sich im Verlauf der Pandemie immer mehr Positionen von “Querdenken” angenähert hat und nun bereits mehrfach nachgewiesenermaßen direkte Kontakte in die Szene unterhält. Mitglied der Initiative sowie indirekt an der Lobbygruppe „Corona-Strategie“ um Antes beteiligt, ist auch Andrea Knipp-Selke. Auch sie war in der Dokumentation mit Antes zu sehen. Am letzten offenen Brief der Initiative vom September war Antes jedoch nicht mehr beteiligt.
Antes gilt laut Christina Berndt und Felix Hütten in der Süddeutschen Zeitung als „Vorreiter der evidenzbasierten Medizin in Deutschland.“ Er ist Ehrenmitglied des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM), an dessen Aufbau er beteiligt war.
INS SCHWIMMEN KOMMEN
Ioannidis behauptet im Film ebenfalls, dass er den ersten Lockdown verteidigt hätte. Zwar soll er sich prinzipiell verständnisvoll über getroffene Maßnahmen in der ersten Welle geäußert haben – diesen Schluss zieht auch der Neurologe Ulrich Dirnagl von der Berliner Charité im Mai 2020 im Blog LaborJournal – aber sein damaliges Verhalten spricht eine ganz klare und viel interessantere Sprache bezüglich seiner eigentlichen Haltung gegenüber der Thematik als auch den Schritten die er bereit war zu gehen, um diese Haltung außerwissenschaftlich zu kommunizieren.
Bereits am 17. März 2020 – stellte Ioannidis in einem Meinungsartikel Lockdowns infrage. Noch am gleichen Tag verhängte die Bay Area die erste strikte „shelter-in-place order“. Einen Tag zuvor veröffentlichte die Corona Taskforce des Weißen Hauses strengere Richtlinien, darunter die Aufforderung, Menschenansammlungen mit mehr als 10 Menschen zu vermeiden. Bevor es also großflächig zu einer wirklichen Bündelung von stärkeren Lockdownmaßnahmen gekommen war, stieg Ioannidis bereits in die Debatte ein.
BuzzFeed News konnte mehrere Emails von Ioannidis aus dieser Zeit sichten und belegen, dass er bereits ab der Zeit um den 23. März 2020 mit einer Gruppe von Wissenschaftlern erste Lobbybemühungen gegenüber dem Weißen Haus ersann. Seine Hypothese die er dabei mit den Kolleg:innen verbreiten wollte, sollte er jedoch erst im April 2020 testen, so BuzzFeed News weiter.
Die daraus resultierende Studie – die bereits bei ihrer Veröffentlichung fehlerhaft war – konnte (und wollte) jedoch nicht die Frage beantworten, ob und welche Lockdownmaßnahmen in einer Kosten-Nutzen-Kalkulation größere negative Effekte erzeugen würden. Statt also Evidenz für die eigentliche Behauptung zusammenzutragen, wurde das Pferd von der anderen Seite aufgezäumt. Die Sterblichkeitsraten nach einer Infektion seien geringer als angenommen.
Ioannidis suchte im Rahmen dieser Veröffentlichung gezielt die mediale Öffentlichkeit, um diese von den Daten zu überzeugen. Dies hat auch hervorragend funktioniert. Allerdings nicht für die Zielgruppe, die sich Ioannidis vermutlich erwünschte.
Das Problem am damaligen Vorgehen von Ioannidis ist nicht, dass er persönlich in Wort und Schrift die aktuell herrschenden Maßnahmen kritisiert hätte, was er zu diesem Zeitpunkt definitiv nicht explizit getan hat. Die Hauptkritik entzündet sich an seiner Wissenschaftskommunikation, der übereilten Veröffentlichung einer zunächst fehlerhaften Studie und mittlerweile auch daran, dass er die grundlegende Kritik an seiner wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Betätigung nicht anzuerkennen scheint.
Im Gegenteil. Erst im Oktober erschien ein neues Preprint mit Ioannidis, in dem seine Forschungsgruppe Raten für die Infektionssterblichkeit für 2020 errechnet. Diese Berechnungen widersprechen einer Studie vom Februar 2022 gleich um mehrere Faktoren. Allein aus diesem Grund ist bereits Vorsicht angebracht. Inhaltlich angreifbar macht sich das Preprint wohl ebenfalls. Zumindest laut Wissenschaftsforscher Kyle Sheldrick auf Twitter.
Ioannidis erzählt im Film auch davon, wie er Eltern über Kinderimpfungen aufklären würde:
„Wir sollten sehr ehrlich darüber sein, wie viel wir nicht wissen. Wenn mich jemand fragen würde, was in zehn Jahren passieren könnte, ich habe keine Ahnung, denn das ist in zehn Jahren der Fall. Glaube ich, dass es eine komplette Katastrophe wird, dass diese Impfstoffe nur massiven Krebs verursachen und Menschen wie die Fliegen sterben würden? Ich denke das nicht. Ich glaube das nicht. Wieso? Basierend auf dem, was wir »priors« nennen. Wissen Sie, meine früheren Erfahrungen waren nicht, dass ich das bei anderen Dingen, die wir entwickelt haben, so gesehen habe.“
Das Paul-Ehrlich-Institut kennt laut eigenen Erfahrungen keinerlei Impfnebenwirkungen – auch bei anderen Impfstoffen – die erst Jahre nach einer Impfung auftreten können. Ioannidis hypothetischer Rat („keine Ahnung“) ist also im Konflikt mit seiner zuvor erläuterten Aussage, sich an klinischen Erfahrungen zu orientieren.
WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATION FÜR DIE EIGENE IDEE

Ich möchte hier keinen falschen Eindruck entstehen lassen. Nicht alles was Ioannidis im Film sagt ist per se falsch oder irreführend. Es wäre aber auch nicht korrekt zu behaupten, dass Ioannidis damit keinen Schaden anrichtet. Er tritt hier nicht mehr länger als Wissenschaftler auf. John Ioannidis ist in dieser Dokumentation Aktivist, der weiterhin Wissenschaftskommunikation für die eigene Idee betreibt.
Während Ioannidis auf der einen Seite nämlich von den „extremen Stimmen“ und Angstmache spricht, redet er auf der anderen Seite von einem „war on science“ und warnt davor, dass ein angeblich steigender Einfluss von „big pharma“ auf die Wissenschaft irreversibel sein könnte. Und: Ioannidis bezieht sich wiederholt auf andere Krisen – darunter Kriege, Klimawandel, Hunger und Armut – um die Bedeutung von gegenwärtigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu relativieren. Er verwendet das Wort „Krieg“ im Verlauf des Interviews allein an acht Stellen.
Nach all den fragwürdigen Dingen, die Ioannidis allein in dieser Dokumentation geäußert hat, ist der folgende Aufruf von seiner Seite nur schwer zu ertragen: „Ich denke, ein Coming Out würde bedeuten, dass wir versuchen, zu einer Art Normalität zurückzukehren. Und: Eine Möglichkeit ist, zu versuchen, es zu vergessen.“
Das erinnert an einen kürzlich erschienen Essay von Emily Oster für The Atlantic. Darin fordert sie eine pandemische Amnestie. Genau das erfordert jedoch eine zwingende Grundbedingung, die zumindest Ioannidis bislang aus meiner Sicht nicht anbieten kann: Vertrauen und Transparenz.
„Wir haben viele Dinge getan, die wahrscheinlich sehr wenig bewirkt und wahrscheinlich erheblichen Schaden angerichtet haben“, so Ioannidis an anderer Stelle in der Dokumentation. Damit spricht er von angeblichen Kollateralschäden, die höher gewesen seien, als der Nutzen einzelner Maßnahmen. Damit könnte er vereinzelt sogar richtig liegen. Klare Belege liefert er aber nicht.
Aufgrund seiner Liebe zur Kunst, so Ioannidis sinngemäß, habe er eine enorme Voreingenommenheit. Zitat: „Es war also etwas, das wahrscheinlich einen Teil meiner Voreingenommenheit geschaffen hat, meiner persönlichen Voreingenommenheit als Wissenschaftler, weil ich diese andere Perspektive hatte, die ich fühlte: »Meine Güte, das ist so inkongruent mit meiner anderen Seite von mir. Das bringt meine andere Seite komplett um.« Vielleicht war ich aus diesem Grund voreingenommen, aber ich denke, dass viele Menschen auf die gleiche Weise betroffen waren.“
Und das ist das Problem mit der Dokumentation und seinem Protagonisten. Nur an der Oberfläche erfährt man, wer John Ioannidis ist. Denn es sind vor allem unsere Fehler, die uns menschlich machen. Das sollte auch John Ioannidis als Kunstkenner wissen. Für jemanden der kollektive Fehler sehr stark betont, wäre eine strukturelle Analyse für die Entstehung dieser Fehler sehr wichtig.
Statt diese jedoch zu betreiben, greift Ioannidis auf einfachste Feindbilder zurück. Medien, soziale Medien, Politik und Pharmalobby. Nicht einmal die Wissenschaft selbst ist vor ihm sicher. Der Eindruck, dass es sich für ihn um „Feindbilder“ handelt, entsteht dadurch, weil Ioannidis darüber meist nur auf Grundlage von anekdotischer Evidenz erzählt und bei seiner Kritik häufig auf einer abstrakten Ebene verbleibt.
Man darf nicht vergessen, was John Ioannidis in dieser Pandemie auch erleiden musste. Internetgerüchte um den Tod seiner Mutter, lösten bei dieser eine lebensbedrohliche Episode aus. Auch das erwähnt er im Gespräch. Und es erklärt vielleicht auch zu großen Teilen seine Einstellung zu sozialen Medien.
DIE "LETZTE" EVIDENZ
Was die Dokumentation jedoch nicht andeutet: Wie weit wird John Ioannidis noch gehen, um die „letzte“ Evidenz zu finden? Es ist gut und richtig, dass Maßnahmenforschung betrieben wird oder auf mögliche Probleme im Wissenschaftsbetrieb oder in anderen Bereichen hinzuweisen. Die Art wie Ioannidis diese jedoch formuliert und die Tiefe mit der er diese durchdacht hat, spricht nicht dafür, dass er sich seiner eigenen Verantwortung in der Wissenschaftskommunikation bewusst ist.
Es gibt eine Aussage in Dirnagls Kommentar zu Ioannidis, der ich rückblickend deutlich widersprechen würde: „[S]chließlich werden richtige Argumente nicht dadurch falsch, dass man sie gegenüber Obskuranten äußert oder diese von ihnen zitiert werden.“
Die regelmäßige Positionierung bei entsprechenden Obskuranten als auch die ungebrochene Aufmerksamkeit für Ioannidis von Seiten dieser Obskuranten, ist mittlerweile nicht mehr als einmaliges Versehen sondern als vorläufigen Prozess der akademischen Radikalisierung zu verstehen. Diese Prozesse haben wir auch in Deutschland während der Pandemie feststellen können. Akademiker:innen, die sich in der Öffentlichkeit als Ausgestoßene des Wissenschaftsbetriebs oder der Medien positionieren.
Eine der letzten Sequenzen des Films zeigt Ioannidis bei der Rezitation eines Textes. Er hat diesen selbst verfasst und er stammt aus einem Prosabuch von Ioannidis, das er in diesem Jahr veröffentlicht hat.
Darin findet sich auf Seite 329 eine sehr interessante Behauptung von Ioannidis:
„Schließlich ist es sehr wahrscheinlich, dass der Reputationsangriff gegen mich während der COVID-19 Pandemie in Griechenland (und möglicherweise auch international) zumindest teilweise von Big Tobacco und ihren mächtigen Medien- und Social-Media-Verbündeten orchestriert wurde, die darauf warteten, sich zu rächen. Einige der anderen Leute, die mich angriffen, wussten nicht, dass sie schließlich unfreiwillig einer korrupten Agenda dienten, bei der Big Tobacco eine herausragende Rolle spielte.“
FAZIT: WIE GEHT VERTRAUEN?
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Nicht erst im Zuge des Artikels von Emily Oster für The Atlantic habe ich mir die Frage gestellt, wie eine Versöhnung während oder nach der Pandemie aussehen kann. Und vor allem: Welche Bedingungen es dafür braucht.
Eine Grundbedingung wäre dabei die Reflektion von eigenem nachweislichen Fehlverhalten und eine ehrliche Kommunikation. Ioannidis bietet das in dieser Dokumentation nicht an. Kein Wunder, denn kritische Fragen sind bei „Schutzfilm“ auch in diesem Rahmen vorerst nicht zu erwarten. „Vergessen“ erfordert viel Vertrauen.
Das Ioannidis die Dokumentation auch noch dazu nutzt, um weitere Falsch- und Fehlinformationen zu kommunizieren zeigt, dass er wohl immer noch nicht verstanden hat, wie groß das Misstrauen ihm gegenüber in Sachen „Corona“ ist. Die einzige Gruppe, die Ioannidis in diesen Fragen noch uneingeschränktes Vertrauen schenken dürfte, ist “Querdenken”.
Ioannidis versucht sich gemeinsam mit der Filmemacherin an einer Vermenschlichung des Wissenschaftlers. Das ist legitim, denn auch er hat das Recht die Fehler zu begehen, die uns als Menschen charakterisieren. Was er und die Filmemacherin versäumen, ist die eigene Verletzlichkeit des Protagonisten glaubwürdig darzustellen. So bleibt es eine schräge Skizze, die bewusst Probleme unterschlägt.
Es bleibt auch wie bei der letzten Produktion von „Schutzfilm“ nur das Fazit zu ziehen, dass es nicht um Aufklärung und Verstehen geht, sondern um das Zeichnen einer eigenen vorgefertigten Lesart zur Pandemie, die offensichtlich auf schwachen und teils verzerrten Grundannahmen beruht, die nicht hinterfragt werden. Auch für „Schutzfilm“ gilt: Die Anerkennung eigener Fehlannahmen wäre wichtig. Solange man selbst aktiv an der Verbreitung falscher Fakten beteiligt ist, sehe ich keine Möglichkeit einen gesellschaftlichen Vergessensprozess anzustoßen. Zu groß ist die Gefahr, dass man öffentliche Plattformen zur Bestätigung oder Weiterverbreitung der eigenen Lesart nutzt.
Wie lange man sich noch auf Suche nach der „letzten Evidenz“ befindet, wird die Zeit zeigen. Ich bin ebenfalls dafür, dass die Wissenschaft sich mit den Auswirkungen von Coronamaßnahmen beschäftigt. Der Adressat für die Kritik hätte jedoch schon immer die Politik sein sollen und nicht die Maßnahmen. Hier wurde versäumt, trotz der damaligen Notwendigkeit von Maßnahmen, bedarfsgerechte Lösungen für Kinder und Jugendliche umzusetzen.
Ob Ioannidis und Co. noch einen Perspektivwechsel einlegen werden? Ob eine Reflektion noch möglich ist? Ich bin gespannt. Out to see deutet jedoch (leider) nicht darauf hin, dass damit in absehbarer Zukunft zu rechnen sein wird.