Day 178 – Spielbares Psychogram der Verschwörungsideologie
Ein Essay über die Hoffnung im Verlorensein
Was das Videospiel Day 178 über den Glauben an Verschwörungen erzählt und wieso solche Formen interaktiver Auseinandersetzungen mit der Materie letztlich Empathie im Umgang mit Betroffenen fördern könnten. Außerdem geht es um die Impotenz eines scheinbar omnipotenten Staates im Angesicht der Krise. CN: Suizid und Tod.
Vor ein paar Tagen bin ich auf ein sehenswertes Video des YouTubers sorenisimo gestoßen, das sich mit analogem Horror in Videospielen befasst. Analoger Horror bezieht seinen Grusel vor allem aus der Interaktion mit technischen Oberflächen wie Radios, PC-Terminals oder Retro-Spielkonsolen. Obwohl dies eine sehr enge Definition des Genres zu sein scheint, spielt dies keine übergeordnete Rolle. Denn eines dieser Spiele hat es mir über die bloße Begrifflichkeit hinaus angetan.
Day 178 ist kostenlos spielbar und erweist dem Genre auch so alle Ehre. Auf der Seite der Distributionsplattform itch.io findet man das Spiel nicht. Vielmehr muss man selbst darauf stoßen, so wie ich über die Erwähnung im oben genannten Video. Man muss also alleine in den Kaninchenbau steigen.
Day 178: Der Anfang vom Ende, oder das Ende vom Anfang?
Formal schwimmt das Game mit einer Welle von Horrorspielen mit, die sich von der Ästhetik der PlayStation 1 leiten lassen. Aufgrund technischer Limitationen waren damalige Spiele häufig bereits in sich kryptisch angelegt und ließen Raum, um diese Lücken selbst zu füllen.

Day 178 lässt auch inhaltlich Raum. Eine Textbox erklärt: „Es sind 178 Tage vergangen, seit wir gezwungen wurden, uns zu Hause zu verstecken. (...) Der Staat hat bisher noch keine Erklärung für diesen Umstand abgegeben, außer dass wir zwangsweise in unseren Wohnungen verbleiben müssen.“ Ein Lockdown. Obwohl der Grund nie offenbart wird, sind etwaige Parallelen zu Corona kaum zufällig angelegt.

Im Spiel befinden wir uns in einer kleinen Wohnung in einem nächtlichen Neubaublock. Das Wohnzimmer ist vollgestopft mit Konservendosen, Überresten von Pizza und Spirituosen. An der Wand hängt ein kaum sichtbares verstörendes Kunstwerk.
Die vermüllte Wohnung erfüllt ein beliebtes Klischee davon, wie sich die meisten Menschen die Behausungen von Verschwörungsgläubigen vorstellen: verwahrlost. Doch das Spiel bietet hier nur einen oberflächlichen Einstieg in das, was unter der Oberfläche stattfindet.
Day 178 nutzt diese Klischees nicht um sich über die Gedankenwelt zu erheben oder sich über diese lustig zu machen. Stattdessen haben sie innerhalb des Rahmens der Erzählung einen Sinn, denn sie ermöglichen einen emotionalen Zugang. Die Vorurteile dienen hier einer psychischen Zustandsbeschreibung. Sie sind die „Oberfläche“ – um bei der Thematik des analogen Horrors zu bleiben – von der ein Einstieg für Außenstehende in diese Welt oft erst gelingen kann.
Ein Einstieg in das Denken und Fühlen von Personen, die Opfer von Verschwörungsmythen sind.
In der Erfahrungswelt des Verschwörungsglaubens
In Day 178 erfährt der Protagonist eine paradoxe Welt. Einerseits findet er sich in katastrophalen Lebensbedingungen wieder, andererseits erklärt die Regierung ihm per Fernseher: „Befolgen Sie die Anweisungen für Ihre eigene Gesundheit und die der anderen.“
Alles Überlebenswichtige erhält er über ein weitverzweigtes Rohrpostsystem. Da er seine frühere Arbeit nicht von der Wohnung aus erledigen kann, muss er auf das Ausliefern von Drogen ausweichen. Über das Rohrpostsystem der Regierung, das ihm am Leben hält. Am namensgebenden 178. Tag geht ein solcher Auftrag schief. Die Sendung verfehlt ihr Ziel.
Daraufhin meldet sich die Stimme seines Auftraggebers am Telefon. Der Protagonist muss die Drogen nun sichern und illegal seine Wohnung verlassen, da die Regierung die Sendung sonst zurückverfolgen kann. Der Drogenhändler selbst ist jedoch nicht in der Lage diese Aufgabe zu übernehmen. Warum, das erfährt man nicht, wie so vieles im Spiel. Statt auf die staatlichen Anweisungen zu hören und in seiner Wohnung zu bleiben, nimmt er das Heft selbst in die Hand. Wird er dabei nicht selbst gewissermaßen zur Marionette des Auftraggebers? Oder hat der Staat ihn im Spiel erst dorthin getrieben? Auch das bleibt offen.

Auf einer Metaebene ist dies eine treffende Analogie zu Verschwörungsgläubigen, die ihr Vertrauen in eine kleine Gruppe von selbsterkorenen Widerstandskämpfern gegen einen als diktatorisch wahrgenommenen Staat setzen, obwohl sie unter den Bedingungen einer demokratischen Herrschaftsform leben.
Verwickelt in den Kampf um die vermeintliche Wahrheit
Hinter einer mit Brettern zugenagelten Tür findet man sich in der menschenleeren Stadt wieder. Wer sich umschaut im weitläufigen Wohnkomplex, findet jedoch eine blutüberströmte Leiche versteckt am Boden eines weiteren Neubaus. War es die Regierung? Später erhält man möglicherweise einen Hinweis.

Von hier aus betritt man eine unterirdische Anlage, die den metaphorischen Abstieg in die Unterwelt oder den Kaninchenbau darstellt. „Ich fühle mich nicht sicher, aber es ist jetzt zu spät, um umzukehren“, verdeutlicht eine Einblendung die Gedanken der Spielfigur. Der Weg aus der eigenen Gedankenwelt erscheint unumkehrbar. Man ist bereits zu tief verstrickt im Dickicht der eigenen Ängste, eingeflößt von einem Scharlatan und einer als diktatorisch empfundenen Regierung.
Mithilfe von Signalen aus einem Radio löst man ein Rätsel um fortzufahren. Ein Merkmal von Verschwörungsgläubigen ist die erhöhte Neigung zur Erkennung von bedeutenden Mustern im Alltäglichen.
Anschließend erreicht man die Drogensendung. Doch der Rückweg ist plötzlich versperrt. Zum ersten Mal findet man im Spiel eine Tür, die die Hauptfigur tatsächlich am eigenen Fortkommen hindert. Auf dem Weg über eine Treppe stürzt man tiefer hinab in ein in rotes Licht getauchtes Labyrinth. Doch statt Wahrheit findet der Protagonist nur tote Enden. An einer dieser Sackgassen liegt eine weitere Leiche im Gedankenkeller.
Eine Stimme aus dem Nichts wiederholt mantraartig eine vernichtende Botschaft: „Du fühlst dich verloren, nicht wahr? Du bist einer der wenigen, die das Glück oder Pech haben, die Wahrheit zu erfahren. Du denkst vielleicht, dass sich etwas ändern wird, aber das wird es nicht. Es wird dir unmöglich sein, in dein früheres Leben zurückzukehren. Diese Welt gehört jetzt uns. Jetzt weißt du, was die Zukunft für dich bereithält. Nichts. Kehre zurück in dein elendes Leben. Viel Glück.“
Das Verlorensein wird zur ultimativen Wahrheit und selbsterfüllenden Prophezeiung.
Schließlich finden wir doch noch eine Luke. Einen Ausgang. Ein Ausweg? Erneut geht es tief hinab. „Ich weiß nicht was passiert ist. Ich bin zuhause aufgewacht. Ich fühle mich schrecklich, komisch, auf seltsame Art anders, aber bewusst. Ich brauche Hilfe, ich muss das Notfallsystem kontaktieren. Ich fühle mich nicht sicher.“
Awake in Acheron

Acheron ist einer der Flüsse der Unterwelt in der griechischen Mythologie, hinter dem laut Platon ein See liegt, in dem Tote sich von ihren eigenen Verfehlungen reinwaschen können. Obwohl wir jetzt wieder in der Wohnung sind, haben wir doch die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus erkundet, um zur oberflächlich zunächst banalen Erkenntnis zu gelangen, dass der Ausgangspunkt für den Einstieg in unsere Gedankenwelt ein Gefühl der persönlichen Ohnmacht war.
Doch der Protagonist kann sich nicht reinwaschen, er ist weiterhin isoliert, impotent gegenüber der Allmacht der eigenen Gedankenwelt, die ihn bis an diesen Punkt geführt hat. Im Fernsehen teilt ihm die Regierung mit, dass er in Kontakt mit einer unbekannten Entität gekommen sei. Man habe aber keine weiteren Informationen dazu. Hier gesellt sich zur persönlichen Ohnmacht die Ohnmacht der Regierung gegenüber Personen, die sich eigentlich von dieser abgewendet haben. Der omnipotente Staat ist selbst impotent im Angesicht der Menschen, die seinen Einfluss vehement ablehnen.
Im Spiel bietet sich dem Spieler nur eine Option: der Tod. Die Entscheidung liegt dabei nur darin, ob man von eigener Hand oder durch Gas, welches die Regierung in die Wohnung einleitet, sterben möchte. Angeblich untermalt von Mozarts Lacrimosa, hört man in Wirklichkeit nur ein dumpfes Rauschen, begleitet vom Flackern des Fernsehers und der Kerzen.
„Ich fühle mich jetzt gut. Ich bin ihnen beigetreten. Jetzt kenne ich die Wahrheit. Jetzt bin ich frei.“ Dies sind die letzten Gedanken mit denen uns das Spiel entlässt. Eine „Freiheit“, die im Spiel nur ultimativ im Tod zu finden ist. Eine „Freiheit“ die der Protagonist im Spiel ironischerweise von der Regierung erhält. In Wahrheit natürlich eine falsche Vorstellung von Freiheit und persönlicher Verantwortung, die aber im wahren Leben zu wenig ernstgenommen wird. Außerdem eine romantisierte und verharmlosende Vorstellung von Suizid, die jedoch im Kontext des Spiels sowie der Gedanken des Protagonisten – und eben nur dort – einen traurigen Sinn ergibt.

Freiheit von Verschwörung als Regierungsverantwortung
Das Spiel charakterisiert nicht nur den Protagonisten, sondern auch das staatliches Nichthandeln im Umgang mit dem Verschwörungsglauben. Wohin sollen sich selbst Betroffene und Angehörige hinwenden? In Berlin und Sachsen-Anhalt gibt es mittlerweile erste Anlaufstellen bei Veritas. In Brandenburg bietet demos über MITMENSCH eine Beratungsstelle an.
Der Fokus liegt dabei im Wesentlichen auf der Beratung von Angehörigen, nicht jedoch auf dem Umgang mit Aussteiger:innen aus der Szene. Nach meinem Wissen gibt es (noch) kein spezialisiertes EXIT-Programm für ehemalige Betroffene von Verschwörungserzählungen.
Dabei könnten wir viel von Aussteiger:innen lernen. Etwa von Menschen wie Brent Lee, der früher nicht nur an Verschwörungserzählungen zum 11. September glaubte, sondern diese auch aktiv verbreitete. Oder von Martin Lejeune, der sich Ende 2021 von Querdenken abwendete.
In der Gesellschaft wird weiterhin ein falsches Bild von Verschwörungsgläubigen verbreitet. Sie werden oft als „dumm“ oder „verrückt“ abgestempelt, obwohl dies nicht der wissenschaftlichen Lehrmeinung entspricht.
Dieses Bild ist nicht nur falsch, sondern auch kontraproduktiv und treibt diese Menschen schlimmstenfalls weiter in die Hände von Menschen, die ihnen falsche Erzählungen anbieten. Regierungsverantwortliche dürfen diesem Bild nicht aufsitzen, wenn sie ihrer Verantwortung gerecht werden wollen.
TL;DP
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Spiel "Tag 178" mit einer Spielzeit von nur 30 Minuten schnell abgehandelt ist. Aber es hinterlässt eine nachhaltige Wirkung, wenn man sich emotional darauf einlassen kann. Es bietet einen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Verschwörungsgläubigen und zeigt die kafkaeske Suche nach der einen "Wahrheit", sowie die paradoxen Ohnmacht der Regierungen gegenüber diesen Personen.
Der Horror ist hier vor allem psychologischer Natur und kein Gimmick – auch kein Jumpscare - versperrt den Weg nach Acheron. Ob wir gemeinsam den Weg zurück an die Oberfläche finden werden? Antworten auf die wichtigsten Fragen des Lebens kann uns kein Spiel geben. Gefühlen der Ohnmacht kann man am besten mit Personen begegnen, die einem gut tun. Und das kann man jederzeit wieder erlernen, selbst wenn man meint, jedes Vertrauen in die Welt verloren zu haben.
Wichtig: Wenn Sie von Suizidgedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Nummer der Telefonseelsorge. Diese ist kostenlos rund um die Uhr aus ganz Deutschland für jede:n erreichbar unter den Telefonnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Man gibt Ihnen dort anonym und ohne persönliche Vorverurteilung Hilfe.