Das Cicero-Magazin feierte im vergangenen Monat 20-jähriges Bestehen. Zum Jubiläum stattete ich der Redaktion in Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf einen Besuch ab. Das bedeutete: Eintauchen in die Herzenswärme des Kardinalrots einer Familie von im Grunde anständigen Menschen, die einfach nur Habeck, Impfungen und „so ‚wokem‘ Zeug“ teils skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Eine investigative Satire für die Meinungsfreiheit.
„Wokeness“, Grüne und Corona. Der Namensvetter des Cicero-Magazins hat einst eine Verschwörung vereitelt. Sieht man sich in gemeinsamer Tradition? „Das wäre angesichts der Leistungen von Marcus Tullius Cicero ein Frevel. Gleichsam sind wir uns hier alle einig, dass auch wir bereits historisches geschaffen haben“, so erklärt es Alexander Marguier, Chefredakteur und Mitherausgeber des Cicero.
Man sieht Marguier sein Alter nicht an. Er wirkt dynamisch auf eine eigentümlich düstere Art, die dadurch jedoch genügend Raum zum Ausleuchten lässt, ohne dabei den Wunsch hervorzurufen, ihn gläsern werden zu lassen. Marguier ruft einen Beschützerinstinkt hervor, obwohl er sich doch bereits selbst mit Inbrunst um die Ausrichtung des Cicero kümmert.
Der Konferenzraum ist das leicht abgedunkelte Gehirn der Journalismusmaschine „Cicero“. Es herrscht eine teil-konzentrierte Stimmung vor, angesichts des enormen Drucks, der auf allen Anwesenden lastet. Ein Teil flüchtet sich aus Selbstschutz in fantasievolle Tagträumereien, während der andere gebannt den Worten des Chefs folgt. „Die Zeiten sind hart. Wenn wir verlieren, verliert nicht nur der Journalismus. Es geht auch nicht allein darum, dass einige von euch ihren Job verlieren könnten. Verlieren heißt: die Anderen könnten gewinnen.“
Wie in Trance wiederholen die Redakteur:innen den letzten Satz von Marguier und öffnen im Gleichklapp ihre Laptops, die den Raum in ein fahles Licht tauchen. Es ist aber ein behagliches Licht und ich fühle mich augenblicklich dazugehörig, als wäre ich bei einer Séance anwesend.
Fahrt ins Ungewisse
„Wer sind ‚die Anderen‘?“, frage ich einen unscheinbaren Redakteur mit spärlich vorhandener Kopfbehaarung und Bart am Ende der Besprechung. Der Mann sieht mich an, als würde ich einen Aluhut tragen. Mit einem Finger deutet er mir wortlos ihm zu folgen, was ich als große Geste des Vertrauens und der Verbrüderung deute. Er führt mich aus dem Haus zu einem überdimensionierten schwarzen Geländewagen. Am Steuer sitzt bereits Marguier. Ohne sich zu mir umzudrehen sagt er: „Ich wusste, dass Sie diese Frage stellen würden. Während der Fahrt bitte nur die notwendigsten Gespräche und keine weiteren Fragen.“
Marguier steuert das Auto auf die A12. Nach anderthalb Stunden passieren wir Frankfurt an der Oder und befinden uns in Polen. Wir alle schweigen, so wie die großen schwarzen Balken in den RKI-Files. An uns ziehen Städte, kleinere Ortschaften und überteuerte Autobahnraststätten vorbei. „Polen baut“, entfährt es Marguier fast unwillkürlich, als dieser an einem Kran vorbeifährt. „Polen baut neue Atommeiler“. Im Innenspiegel erhasche ich einen Blick auf sein Gesicht. Es ist eine unbarmherzige Mischung aus Trauer, Ärger und einer Prise Melancholie. Zugleich sehe ich auch eine Hoffnung, die keinen Raum für die Erkundung der eigenen Gefühle zulässt.
Kurz vor der Grenze nach Weißrussland, die Sonne ist bereits untergegangen, halten wir an einer Tankstelle. Der Redakteur auf dem Beifahrersitz liest seit Stunden in einem aktuellen Buch von Kristina Schröder. Insgesamt, so zähle ich, hat er das Werk unterwegs mindestens dreimal gelesen. Von außen wirkt es zunächst, als sei der Buchtext umrandet von schwarzen Balken, doch es sind die Notizen des Journalisten, die dieser daneben einfügt. „Genial!“, „Genauso denke ich auch!“ oder „Hört, hört!“
Ein Knallen der Fahrertür deutet mir, dass die Fahrt nun weitergeht. Marguier ist hochkonzentriert. Was auch immer mir die beiden zeigen wollen, es ist der Schlüssel zu ihrem journalistischen Ehrgeiz und ihrer Potenz. Oder ist es eine Besessenheit?
Als wir in Minsk ankommen, ist es bereits einige Zeit nach Mitternacht. In einem Hotel machen wir Rast und ich äußere Bedenken zu Abhörgeräten. „Gesunder Skeptizismus. Sie könnten auch bei uns anfangen“, kumpelt Marguier und nickt dem anderen Redakteur bedeutungsschwanger zu.
„Kant“
Am nächsten Morgen stehe ich frühzeitig auf. Ich möchte noch ein Gespräch mit der Frau eines weiteren Journalisten beim Cicero führen. Welchen Einfluss hat die Anstrengung des Jobs auf die Familie? „Mir war immer klar, dass es nicht einfach wird. Die Midlife-Crisis meines Mannes kann hier ausheilen. Außerdem konnte ich bereits einen Gastbeitrag veröffentlichen.“ Ob es schwer ist an einen Gastbeitrag im Cicero zu gelangen, frage ich sie. „Absolut. Ich kenne bisher nur ein gutes Dutzend an Bekannten, die einen veröffentlichen konnten.“
Ich schließe den Laptop und blicke die Wände entlang. Etwas mulmig ist mir bei dem Gedanken möglicherweise hier abgehört zu werden schon. Ein Türklopfen reißt mich jedoch aus meinen Gedanken. „Wir fahren weiter“. Der Redakteur mit den sich ausdünnenden Haaren lächelt mir entgegen. In der Hotellobby fixiert er beim Warten auf Marguier ein Gemälde hinter der Rezeption. „Kant“, flüstert er ehrfürchtig. „Wie bitte?“, frage ich verwirrt. „Aufklärung war sein Credo, so wie es auch unser Journalismus ist. Meine Idee war immer ein Cicero-Ableger für junge Menschen mit seinem Namen. Vielleicht mit Extras wie früher im Yps. Leider zu teuer, meint mein Chef.“
„Irgendwer muss das Geld ja schließlich vorher erwirtschaften“, meint Marguier, der plötzlich aus dem Schatten einer Säule hervortritt. „In der Aufklärung steht Licht für die Vernunft“, so dieser ohne zunächst erkennbaren Zusammenhang. Er steht noch für einen kurzen Moment mit wässrigen Augen vor dem Gemälde und deutet uns dann mitzukommen. Ich werfe verwirrt einen letzten Blick zurück auf das Bildnis von Lukaschenko und folge den beiden.
Nach einer weiteren Fahrtstunde platzt es schließlich aus mir heraus: „Wohin fahren wir? Wozu die Geheimniskrämerei?“ Marguier und sein Kollege brechen in schallendes Gelächter aus. „Das fragen wir uns auch“, sagt Marguier. „Das fragen wir auch permanent andere“, sagt der Redakteur. „Ob Robert-Koch-Institut oder Wirtschaftsministerium…“, fährt der Redakteur fort. „… sei es das Paul-Ehrlich-Institut oder Correctiv“, fügt Marguier hinzu.
Hier zeigt er sich von seiner verletzlichen Seite und lässt mich kurz mit meiner journalistischen 9-Volt-Taschenlampe die Konturen der schattigen Ausläufer seiner Person erahnen. Eine Person, die eine mächtige Zeitschrift wie Cicero mitverantwortet. Ein Mann, der über leuchtstarke journalistische Flak-Lichter verfügt, um die Wahrheit ohne Schwärzungen und ungeschönt herauszuarbeiten.
Иди на восток, разорись
Am späten Nachmittag und mit einigen Zwischenstopps, die wie verfälschende Auslassungsklammern unsere Reise kennzeichneten, erreichen wir Moskau. „Wir sind fast da“, sagt Marguier hörbar lächelnd, doch mit einem deutlich zu vernehmenden Anflug von Verunsicherung, die kurz davor steht in Angst umzukippen. „Diese Stadt ist eine Dirne“, säuselt der bärtige Journalist einen Fetzen Rammstein, während Marguier uns mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die Straßen führt.
„Heute werden wir noch keinen Erfolg haben. Morgen wird es geöffnet sein. Dann können wir dir zeigen, wer ‚die Anderen‘ sind.“ Ich versuche erfolglos meine Enttäuschung zu verbergen. Eine Nacht in einem russischen Hotel? Meine leicht paranoide Sorge vor Überwachung in Minsk wich an diesem Abend einer völligen Gewissheit. Drei westliche Journalisten in einem Hotel im Machtzentrum Putins.
Ich beziehe mein Zimmer und bleibe erschöpft auf dem Bett liegen. Niemals hätte ich gedacht, wohin mich meine Arbeit zum Cicero führen würde. Ein Geräusch aus dem Nebenzimmer lässt mir jedoch keine Ruhe. Ich halte ein leeres Glas an die Wand, presse mein Ohr dagegen und lausche. Es ist Marguier. Er spricht, doch es ist niemand mit ihm im Zimmer. Seine Worte gelten den vermuteten Wanzen in der Zimmerdecke.
„Wir könnten gemeinsam so viel gegen Wokistan erreichen, aber warum musstest du auch diesen Krieg vom Zaun brechen? Die Translobby hätte vor uns gezittert! Stattdessen zäunt ihr die Translobby einfach komplett ein. Warum? Wir hätten so viel Spaß haben und gemeinsam über die Impfungen lachen können. Stattdessen lacht die westliche Welt über Sputnik V.“
Seitenrascheln. Erschrocken drehe ich mich um. Der Redakteur steht hinter mir mit seiner Ausgabe des Buchs von Kristina Schröder. „Ich verstehe diese eine Stelle nicht. Sonst verstehe ich immer alles, was sie mir sagen möchte, aber bei dieser Stelle habe ich Probleme. Bitte hilf mir!“ Tränen schießen ihm in die Augen. Ich sehe mir das Buch an. Es ist komplett geschwärzt, bis auf eine einzelne Passage. „Go east, go broke.“
Am Morgen nach diesem Albtraum finde ich mich zum Glück nicht als Ungeziefer verwandelt wieder, aber die Sorge vor einem verwanzten Zimmer lässt in mir ein ähnlich kafkaeskes Gefühl zurück und so treibt es mich hinaus auf den Flur.
Die Anderen
Kurz vor Mittag treffen wir uns im Foyer. Von hier aus wollen wir zum mysteriösen Ort, der das Ziel unserer Reise ist. Marguier führt uns mit zielstrebig durch die Straßen und Gassen einer mir angesichts des Regimes in Russland gespenstisch wirkenden Stadt. „Ich wollte doch nur einen einfachen Beitrag über einen Tag beim Cicero schreiben und damit ein wenig Geld in meine klammen Kassen spülen“, denke ich mir. „Irgendwer muss das Geld ja schließlich vorher erwirtschaften“, denke ich mir aber auch.
Wir reihen uns in einer Menschenschlange auf dem Roten Platz ein. „Wer sind denn nun die Anderen?“, frage ich, während wir einem kleinen Gebäude, auf das die Menschenmenge zuströmt, immer näher kommen. Keine Reaktion, wie eine nicht beantwortete Presseanfrage. In diesem Augenblick verstand, nein, fühlte ich zum ersten Mal, wie das Leben als Journalist:in bei Cicero sein muss. Fühlte sich so auch der harte Wind in den schottischen Highlands an? War dies das Gefühl, das emotional vernachlässigende Eltern ihren Kindern mitgaben?
Vor dem Sarg von Lenin legt sich eine bleierne Schwere auf meine beiden Begleiter, als würden sie ihre Schritte auf dem Grund des Meeres vollführen müssen. „Kommunisten“, sagen Marguier und der namenlose Redakteur als finale Antwort auf die schwebende Frage wie mit einer Stimme, wie ein Kollektiv, während ich einem von diesen Kommunisten direkt in die toten Augen sehe. Augen so tot, wie eine zum scheitern verurteilte Abmahnung ohne Aussicht auf Erfolg.
Redaktionsschluss
Eine Woche später besuche ich die Redaktion noch ein letztes Mal. Die Redaktionskonferenz hat bereits begonnen als ich eintreffe und ich vernehme nur ein vermeintlich zusammenhangsloses Fragment. „… mit so wokem Zeug wollen wir nichts zu tun haben.“ Doch daran ist nichts vermeintlich, denn all diese Elemente stehen miteinander in Verbindung und ergeben ein stimmiges Bild. Das weiß ich mittlerweile, nachdem ich eingeweiht wurde.
Die Stimme gehört zu Marguier. Er lehnt die Idee für eine Story über eine Schriftstellerin ab, die sich für geflüchtete Kinder aus der Ukraine in Deutschland einsetzt. „Die Frau gendert. Was sollen unsere Leser denken?“ Dann bemerkt er mich und bittet mich freundlich einzutreten. Der Rest der Redaktionssitzung ist unspektakulär. Fahles Licht, neue Enthüllungen und am Ende ein alter Feind.
Als wir vor einer Woche den Roten Platz und Moskau verließen hatte Marguier mir erklärt, dass jede:r Festangestellte:r diese Reise mit ihm einmal absolvieren muss, um Teil des Teams zu werden. „Es ist wie ein Vertrag. Einmal Cicero, immer Cicero.“
Sein Vorgänger Christoph Schwennicke hatte Cicero einst zur „Feinkostabteilung des Printjournalismus“ gezählt und dazu gehörten laut ihm neben der FAZ auch Tichys Einblick. Das war im Januar 2017. Wie hat Cicero zu sich selbst gefunden und wie prägend war dabei die frühe als verfassungswidrig anerkannte Durchsuchung der Redaktionsräume im September 2005?
Nach Redaktionsschluss beim Cicero an diesem Tag möchte sich Marguier dazu nicht klar festlegen. „Pressefreiheit ist ein fortlaufender Kampf“. Damit hat er selbstredend Recht, aber auch hier lässt sich zwischen den ausgeklammerten Zeilen womöglich eine tiefere Verletzung herauslesen. Doch sicher ist – wie auch die Pressefreiheit in einer Demokratie – nichts, außer der Kampf an sich.
„Sie haben natürlich völlige Freiheit in Ihrer Arbeit, werter Kollege, aber wissen Sie schon, welche Richtung Ihr Beitrag annehmen wird?“ Marguier trennt auch hier messerscharf zwischen der persönlichen und professionellen journalistischen Ebene.
„Mir geht das Schreiben wirklich leicht von der Hand. Nur vorab so viel: Ich bin mir sicher, dass der Cicero bereits historisches geschaffen hat.“