Dies ist die Republikation eines Beitrags vom 16. Dezember 2022 auf Ostprog.de.
Verschiedene Krisen erschüttern die Gesellschaften. Kein Wunder, dass sich Teile der Bevölkerung in Narrative zurückziehen, die die Realität leugnen. Der Faktor „Zeit“ spielt in solchen Erzählungen eine wichtige Funktion. Während eine aufgeklärte Gesellschaft in der Lage ist neue Informationen in das eigene Selbstbild zu integrieren, erschöpfen diese Krisen mit einer Fülle sich laufend verändernder Informationen sichtbar die Fähigkeit westlicher Gesellschaften, sich an diese anzupassen. Ein kurzer Essay über die Zeitformen der Realitätsleugnung.
Kürzlich veröffentlichte Performative Soziologie auf der Plattform Twitter einen lesenswerten Beitrag über ein Phänomen unter dem Namen „NoFuture“: „Das #NoFuture – die nie eintretende Zukunft – wird verwendet, wenn notwendige Handlungen innerhalb der Gegenwart auf eine erhoffte Zukunft projiziert werden, die in die Gegenwart zurückgreift. Das #NoFuture findet im Modus des Phantasma bzw. Wunschdenkens statt.“
Es ist nicht nur eine bloße Kritik am politischen Schlagwort der „Technologieoffenheit“ in der Debatte zu Lösungen der Klimakrise, sondern bietet darüber hinaus noch eine Möglichkeit zur Reflektion, ob sich solche Phänomene – die mit zeitlichen Fehlwahrnehmungen arbeiten – auch in anderen Debatten und Zeitformen finden lassen.
In diesem Essay geht es darum diese kennenzulernen und sich zu immunisieren.
#NOFUTURE
Nicht zu verwechseln ist „NoFuture“ mit dem alten Slogan der englischen Punk-Bewegung. Was im England von 1977 als Statement und Aufruf zur aktiven Rebellion gegen eine als lähmend wahrgenommene Politik zu verstehen war, wird im „NoFuture“-Narrativ der Gegenwart zur selbsterfüllenden Prophezeiung. „Da in der Gegenwart nicht mehr auf drängende Probleme reagiert wird, löscht sich die erhoffte Zukunft selbst aus, die außerhalb der Imagination nie einen Ort hatte. Die Gegenwart wird zukunftslos.“
Als Beispiel wird folgender Narrativ genannt: „Der Durchbruch in Fusionsenergie zeigt, dass die Technologie als Lösung der gegenwärtigen Klimakrise taugt.“ Bekannte Wissenschaftsjournalisten wie Harald Lesch oder Florian Aigner widersprechen ganz eindeutig. Ähnliche Debatten entstanden etwa im Zusammenhang mit Meldungen über Chinas neuen Thoriumreaktor im vergangenen Jahr. Um den „NoFuture“-Narrativ zu erkennen braucht es die Fähigkeit, die antizipierte Zukunft in ein realistisches Bild mit der gegenwärtigen Zukunft zu setzen.
Menschen mit Neigung zu Schwarz-Weiß-Denken nehmen aus solchen Hinweisen jedoch nicht zwangsläufig mit, dass ihr Argument ein nicht-Argument ist, sondern neigen zur Bestärkung eigener Annahmen durch teils waghalsige Konstruktionen.
Man ist dann bei Kritik beispielsweise prinzipiell „technologiefeindlich“ oder „wissenschaftsfeindlich“, obwohl die Forschung an solchen Reaktortypen überhaupt nicht in Frage gestellt wurde. Dabei beinhaltet eine ausgewogene Kritik lediglich den Aufruf der jetzigen Krise mit den vorhandenen Mitteln zu begegnen. Abwehrreaktionen sind prinzipiell groß, weil Opfer des Narratives die realistischere Wahrnehmung nicht in ihr eigenes Welt- und Selbstbild integrieren, weil dies sonst hieße zuzugeben, dass diese zuvor nicht mit der Realität übereinstimmte. Das kann dann zu einem sich selbst verstärkenden Prozess der Isolation und Selbstradikalisierung führen.
Der Teufel steckt wie immer in den Details. Berechtigterweise könnte man fragen: Aber was ist mit 2020, als noch unklar war, wann Impfstoffe gegen Corona Marktreife erzielen? Schließlich könnte man so ja auch die Forderungen der Great Barrington Declaration erklärbar machen. Darin argumentierten die Autor:innen im Oktober 2020, dass es bis zur Einführung von Impfstoffen durch Maßnahmen zu „irreparablen Schäden“ kommen könnte, weshalb diese unter anderem sofort aufzuheben seien.
Das Problem ist, dass die Annahmen der Deklaration bereits damals auf zahlreichen verzerrten und teils unbelegten Annahmen beruhten. Im Guardian hieß es damals etwa: „Michael Head, a researcher at Southampton University, believes the declaration is based on the false premise that governments and the scientific community want extensive lockdowns until a vaccine arrives.“
Dies macht in Teilen auch möglicherweise die fortgeführte völlig entgleiste Debatte bezüglich des NoCovid-Konzepts erklärbar, obwohl auch dieses zeitlich limitiert war und effektiv gesellschaftlich keine Rolle mehr spielt.
Dass die wichtigsten Beteiligten der Deklaration mittlerweile an einem Institut beteiligt sind, dass Verschwörungsmythen verbreitet und von einer verschwörungsideologisch geprägten Kampagne weltweit verbreitet wird, ist dabei nur das I-Tüpfelchen in diesem Nebenexkurs.
Dieses Beispiel soll zeigen, dass auch diese Begrifflichkeiten kritisch darauf abgeklopft werden müssen, wer diese benutzt und insbesondere ob diese inhaltlich auch gerechtfertigt sind. Die Instrumentalisierung von Begriffen ist nicht neu, aber Sensibilisierung dafür notwendig.
Eine Möglichkeit mit dem Narrativ umzugehen könnte der Versuch einer Aufhebung der auf der anderen Seite wahrgenommen Polarisierung sein, indem man herausarbeitet, warum man beispielsweise selbst nicht technologie- oder wissenschaftsfeindlich ist.
#NOPRESENT
Sowohl „NoFuture“- als auch „NoPresent“-Narrative unterminieren Handlungsoptionen in der Gegenwart. Während sich „NoFuture“-Narrative aber auf eine vermeintliche Unmöglichkeit oder Begrenztheit von Handlungsoptionen im Angesicht einer imaginierten und unrealistischen Zukunft abheben, gehen „NoPresent“-Narrative von einer Unmöglichkeit sozialen Wandels aus. Dies kann unter anderem Ausdruck von einer Resignation aber auch eines naturalistischen Fehlschlusses sein.
Typische Erklärungsmuster sind im Falle einer Resignation: „Wir können da sowieso nichts tun. Was bringt das schon? Die da oben sind doch sowieso dagegen.“ Ein naturalistischer Fehlschluss deutet die Resignation zum immanenten Prinzip der Welt um und versucht der Resignation so ihren Schrecken zu nehmen. Allerdings geschieht dies ebenfalls auf Kosten der eigenen Akteursqualität. Beispiele:
„Kinder sterben nun einmal.“
„Wozu mehr Infektionsschutz? Die Natur geht ihren Weg.“
„Veränderungen im Weltklima gab es schon immer.“
Die Resignation wird positiv umgedeutet als „natürlicher Verlauf“, der keine zeitliche Dimension mehr kennt. Dabei wird jedoch dem Menschen in seiner Natur die Befähigung zum eigenen Handeln abgesprochen. Beiden Sichtweisen ist gemeinsam, dass sie Handlungsalternativen herunterspielen und sich auf andere übertragen lassen können.
Man stelle sich diese Einstellung für wichtige Personen von gesellschaftlicher Bedeutung vor, wie etwa Martin Luther King oder die Bewegung der Suffragetten. Gesellschaftlicher Wandel ohne Glauben in die eigenen Einflussmöglichkeiten hemmt jede Form von sozialem Wandel und wird zum Teufelskreislauf einer sich selbst begrenzenden Gesellschaft.
Die Gegenwart wird somit verklärt zu einer naiven Vorstellung in der wahlweise nur eine kleine Anzahl von Personen oder niemand Einfluss nehmen kann. Ein mögliches Einfallstor für den Glauben an Verschwörungsmythen. Dies gilt auch für resignative Formen des „NoPresent“-Narratives, da hier einfache Erklärungsmuster – und solche bieten nun einmal auch Verschwörungsmythen – als Entlastung wahrgenommen werden könnten. Vor allem in Krisenzeiten.
Auch den „NoPresent“-Narrativen lässt sich etwas entgegensetzen. So sieht das vermutlich auch Itamar Shatz, der zum naturalistischen Fehlschluss einen sehr lesenswerten Beitrag in Effectiviology verfasst hat. Mit Resignation ließe sich mindestens kurzfristig durch positive Bestärkung zur Übernahme anderer Perspektiven auf die Gegenwart umgehen.
#NOPAST
Die Wahrnehmung der Vergangenheit hängt von vielen möglichen Faktoren ab. Unter anderem auch davon, ob man bereits in der Vergangenheit in der Lage war einen Diskurs ausreichend zu überblicken, mit allen seinen Nuancen. Diese Möglichkeit hat nicht jede Person.
Desto weniger man diesen Überblicken konnte, desto anfälliger ist man auch für fehlerhafte Interpretationsleistungen, die wiederum als verzerrte Wahrnehmung weitergetragen werden und ein Eigenleben entfalten.
Bestes Beispiel: Das Narrativ man habe Kinder immer wieder als „Treiber der Pandemie“ bezeichnet. Mein Aufruf: Google News öffnen „Kinder“ und „Treiber der Pandemie“ in die Suche eingeben und Ergebnisse auf das Jahr 2020 begrenzen.
Der ganz eindeutig überwiegende mediale Konsens – das geht aus der klaren Mehrheit der Beiträge hervor – war eine Skepsis gegenüber dieser Vorstellung von Kindern als Treiber der Pandemie. Stellenweise gab es Forschung, die bei jungen Erwachsenen – nicht zwangsläufig schulpflichtigen Jugendlichen und erst recht nicht Kindern – einen solchen Trend zu beobachten meinte. WHO, Kultusministerkonferenz und auch Christian Drosten haben ebenfalls nie behauptet, dass Kinder Treiber der Pandemie seien.
Die einzige Ausnahme die ich finden konnte, stammt aus einem Gespräch mit Alexander Kekulé vom November 2020. Darin bezieht er sich ausdrücklich auf Jugendliche. Zudem sollte klar sein, dass Rosinenpicken auf Grundlage einer so breiten – den eigenen Narrativ nicht bestätigenden Medienlage – nur Rosenpicken bleibt.
Was hier vorliegt ist eine Fehleinschätzung zum damaligen Diskurs über die Thematik, die in großer Unsicherheit stattfand. Es findet sich aus meiner Sicht auch kein singuläres Ereignis im Diskurs selbst, was diesen ausgelöst hat. Der Begriff „Treiber der Pandemie“ im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen hat sich vielmehr verselbständigt als Platzhalterdiskussion.
Auf einer Podiumsdiskussion der Deutschen Gesellschaft für Virologie wurde laut Spiegel Wissenschaft im März 2021 sinngemäß gesagt: „Es gibt gar keine Treiber der Pandemie. Viel entscheidender als etwa das Alter einer Person seien die äußeren Umstände.“ Dass es einige Medien dennoch auch danach nicht störte diese Phrase weiter zu verwenden, ist eine ganz andere Geschichte.
Der „NoPast“-Narrativ verhindert angemessene Handlungsmöglichkeit in der Gegenwart, da dieser auf falschen Grundannahmen bezüglich der Vergangenheit beruht, die eine Reflektion der eigenen Einstellungen im Weg steht. Er dient als Einstieg in tiefere Gefilde der Desinformation, da er sich selbst vor der tatsächlichen Vergangenheit immunisieren muss, damit diese nicht zur Bedrohung für das eigene Selbst- und Weltbild wird. Wenn eine einzelne Person sich so verzerrt an die Vergangenheit erinnert, ist das bereits tragisch. Tun es viele gemeinsam, kann das zum weiteren Belastungsakt für eine Demokratie werden, aber man sollte ihn angehen.
Zur Immunisierung würde es helfen, selbst an ähnliche Fehlerinnerungen aus der eigenen Erfahrung zurückzudenken. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie einfach und schnell es passieren kann. Falsch- und Fehlwahrnehmungen geschehen und Menschen sind in Krisen möglicherweise anfälliger für diese.
#NOTIME?
Die Mechanismen hinter diesen Phänomenen sind nicht neu. Die zeitliche Perspektive mitzudenken könnte aber helfen, um ein besseres Bild – sowohl zur Entstehung, Identifizierung und Umgang – über diese Mechanismen zu erhalten.
Der Umgang mit diesen Phänomenen erfordert vor allem eines: Offenheit und die Möglichkeit, sich selbst verletzlich zu zeigen. Eigene ähnliche Verzerrungen zu benennen, denen man in der Vergangenheit vermutlich bereits selbst erlegen ist. Vor zehn Jahren hätte ich persönlich nicht gedacht, dass die Klimakrise so schnell in eine Akutphase übergehen könnte. Ein „NoFuture“-Narrativ. Sowohl aus den allgemeinen Beobachtungen als auch der Wissenschaft ist dies jedoch mittlerweile eindeutig hervorgegangen.
Wir sollten gerade auch aufgrund der eigenen erlebten Einsichtsfähigkeit die Hoffnung nicht aufgeben, dass diese Phänomene der Realitätsleugnung unumkehrbar sind, weil uns dies die Gegenwart vermeintlich lehrt. Sonst laufen wir auch selbst Gefahr in die Denkfalle zu tappen, gesellschaftlichen Wandel als unmögliches Unterfangen anzusehen und verhelfen damit im schlimmsten Fall dieser Realitätsleugnungen zur Massenkompatibilität.
Zeit dafür ist immer.